Im Auge des Sturms
Während die Insel im Fokus der Weltöffentlichkeit steht, wählt sie einen neuen Präsidenten. Mit militärischem und politischem Druck beeinflusst China den Wahlkampf. Ein Kandidat schmiss bereits hin
Alles beginnt zu wackeln. Rhythmisch klopfen die Schuhe gegen den Holzkasten, begleitet vom Klirren der Zahnputzbecher; als würde ein Schlagzeuger sich an der Hotelzimmereinrichtung austoben. Dann, nach etwa 30 Sekunden, ist der Spuk vorbei.
Wer noch nie ein Erdbeben erlebt hat, macht in Taipeh schnell Bekanntschaft mit neuen Urängsten. Doch ein Gespräch mit Einheimischen beruhigt: „Sie haben Glück, dass Sie das erleben konnten“, heißt es. „Das passiert hier nur alle paar Wochen.“
Die Menschen auf Taiwan sind es gewohnt, sich mit Gefahren abzufinden, die sie nicht beeinflussen können. Auch auf dem Nachtmarkt Ningxia im Herzen Taipehs wird das deutlich. Bei Neonlicht und lauter Musik wimmeln hier Menschenmassen zwischen den Essensständen. Daneben begleiten Sicherheitsleute einen kleinen
Mann mit weißem Hemd und noch weißerem Lächeln: Hou Yu-ih, Präsidentschaftskandidat der oppositionellen, konservativen Kuomintang-Partei (KMT).
Der 66-Jährige warnt vor einem Krieg, sollte die regierende Demokratische Fortschrittspartei (DPP) bei den Präsidentschaftswahlen am 13. Jänner an der Macht bleiben. Doch die meisten Passanten interessieren sich mehr für die angebotenen Hühner- und Garnelenspieße sowie das typische, glibberige Austern-Omelette.
Kampfjets vor Taiwan
Gleichzeitig, nur rund 100 Kilometer westlich, dringen zwei chinesische J-20-Tarnkappenjets in den taiwanesischen Luftraum ein. Auch das ist inzwischen Normalität. Taiwan bildet das Auge des Sturms, der sich seit Jahren zwischen den Großmächten China und USA zusammenbraut. Peking beansprucht die Insel als Teil seines Territoriums, droht mit der Eroberung. Taiwans scheidende Präsidentin Tsai Ingwen
suchte deshalb seit Jahren verstärkt die Nähe zu den USA. Wenn am 13. Jänner ihr Nachfolger gewählt wird, gehe es dabei auch um „die Wahl zwischen Krieg und Frieden“, ließ Chinas Regierung ausrichten.
Für Taiwans Außenminister Joseph Wu ist das „ein offensichtlicher Versuch, unsere Wahlen zu beeinflussen“, wie er dem KURIER erzählt. In Kombination mit den immer häufigeren Luftraumverletzungen – fast 2.000 in den vergangenen zwölf Monaten – und Desinformationskampagnen in den sozialen Medien wolle China eine Atmosphäre schaffen, die zur Wahl eines
Oppositionskandidaten führt.
Erstmals gibt es davon bei dieser Wahl gleich drei, die noch dazu unterschiedlicher kaum sein könnten. Da wäre zum einen der Ex-Polizist Hou, der sich selbst als Oppositionsführer sieht. In den Umfragen liegt er aber hinter Ko Wen-Je, dem Bürgermeister der Hauptstadt Taipeh. Der Populist gründete vor vier Jahren seine eigene Partei (TPP) und punktet vor allem bei der Jugend.
Dann wäre da noch der unabhängige Terry Gou. Als Gründer des weltgrößten Elektronikherstellers Foxconn brachte es der 73-Jährige es in China zu einem Milliardenvermögen.
Trotz ihrer Unterschiede fischen alle drei in der entscheidenden Frage zum Umgang mit China im selben Lager: Sie wollen bessere Beziehungen zur Volksrepublik und „Krieg vermeiden“, wie sie sagen. Einzeln dürften sie damit jedoch keine Chance haben. Dessen ist man sich auch in Peking bewusst.
Es ist kein Zufall, dass inmitten des Wahlkampfs am 22. Oktober in ganz China Steuerermittlungen gegen den Foxconn-Konzern aufgenommen wurden – unmittelbar, nachdem Berichte über ein mögliches Wahlbündnis zwischen Hous KMT und Kos TPP bekannt wurden. Das Timing
der Ermittlungen wirkt zu dramatisch, um nicht eine strategische Überlegung Pekings zu sein. Außenminister Wu ortet darin gar einen „plumpen Versuch, einen unabhängigen Kandidaten einzuschüchtern und Terry Gou zum Rückzug zu zwingen“.
Gou tritt nicht mehr an
Der Plan ging auf: Auch der reichste Mann Taiwans knickte ein. Am Freitag, dem Stichtag zur Anmeldung der Kandidatenlisten, gab Gou seinen Rückzug bekannt. Doch die Überraschung: Ko Wen-je und Hou Yu-ih treten getrennt an. Sie konnten sich nicht einigen, wer als Spitzenkandidat ins Rennen geht. Damit ist fast sicher, dass der Kandidat gewinnt, der China nicht passt: der amtierende Vizepräsident William Lai (DPP).
Außenminister Wu, Lais Parteikollege, warnt trotzdem: „Wir dürfen nicht zulassen, dass China in unsere demokratischen Wahlen eingreift. Wenn ihnen das hier gelingt, werden sie das auch in anderen Demokratien versuchen.“