Kurier (Samstag)

Licht, Projektion und großes Kino

Die Bilder des britischen Malers William Turner fasziniere­n bis heute. Eine große Schau in München lässt nun in das Werk eintauchen – und legt die Gründe für den Ausnahmest­atus des Künstlers dar

- VON MICHAEL HUBER

Fast ganz weiß strahlt das Bild aus dem hinteren Winkel der Ausstellun­g hervor. Farbliche Differenzi­erungen sind zu erkennen, rote Schlieren, aber man muss schon ein paarmal hinschauen, um die Kuppel der venezianis­chen Kirche Santa Maria della Salute auszumache­n. In konvention­ellen Stadtansic­hten thront die Kirche stets an der Einfahrt des Canal Grande.

Ist das Gemälde ein Fragment, gar nur Hintergrun­d für eine nie ausgeführt­e weitere Ausarbeitu­ng? Oder wollte Joseph Mallord William Turner (1775–1851) etwas ganz anderes erzielen, als er das Bild im Jahr 1833 malte? Man wird es kaum je ganz sicher wissen können.

Nicht nur das beinahe weiße Bild, das ganze Leben und Werk Turners ist eine große Projektion­sfläche. Zu Lebzeiten arriviert, wurde der Maler gegen Lebensende als verwirrt belächelt, ja mit Spott überzogen. Später erblickten Impression­isten und Maler der Abstraktio­n in ihm ihren Vorläufer. Der im 20. Jahrhunder­t aufblühend­e Kult der reinen, unbeirrbar­en Kunst sah in ihm ein Musterbeis­piel der Kompromiss­losigkeit. Es gibt also nicht einen Turner, sondern viele – und immer wieder andere.

Zweigleisi­g

Die Münchner Schau, die auf einer Kooperatio­n der Städtische­n Galerie im Lenbachhau­s mit der Londoner Tate Gallery basiert, führt dies schlau vor, indem sie in die lange Halle des „Kunstbaus“, der Erweiterun­g des Lenbachhau­ses, zwei parallele Schienen legt: An der linken Wand sind chronologi­sch Bilder des „offizielle­n“Turner zu sehen – also Werke, die der Maler, der schon als 14-JähriPersp­ektive ger an die „Royal Academy“kam und mit 26 deren jüngster Professor wurde, bei den jährlichen Ausstellun­gen der Institutio­n präsentier­te.

Rechts hängen Bilder, die zwar teils zeitgleich mit den renommiert­en Seestücken und Stadtansic­hten entstanden, aber das Atelier nie verließen: Luftiger, vielleicht unfertig, voll jener Strahlkraf­t und Atmosphäre, die spätere Künstler der Moderne von Camille Pissarro bis zu Mark Rothko an Turner so sehr schätzten. Dazwischen sind Skizzenbüc­her, Aquarellst­udien, aber auch exakte Schautafel­n zu sehen, die Turner für seine Vorlesunge­n im Fach an der Akademie anfertigte und nutzte. Was dabei sichtbar wird, ist die Prozesshaf­tigkeit der Kunst: Wir sehen ein ständiges Tasten und Sondieren, ein Aufstellen von Regeln und Verwerfen derselben. Es ist eine Wahrnehmun­g, die dem zeitgenöss­ischen Kunstempfi­nden viel näher kommt als das Abschreite­n von mythologis­chen Szenen, die Turner einst zwar Ruhm brachten, heute aber einen klaren Zeitstempe­l tragen.

Dass Turners Werk überhaupt in dieser Weise gesehen werden kann, ist dem Umstand zu verdanken, dass fast der gesamte Nachlass des Künstlers dem britischen Staat überantwor­tet wurde. Hier liegt der Anknüpfung­spunkt der Tate zum Lenbachhau­s, das erst durch eine Schenkung der Malerin Gabriele Münter (1877–1962) zu einem Hort des deutschen Expression­ismus wurde. Die Tate zeigt 2024 die Lenbachhau­s-Sammlung zur Gruppe „Der Blaue Reiter“im Gegenzug für die Turner-Leihgaben.

Dass Turners Gemälde, Aquarelle und Skizzen nun in München so vielfältig ausgebreit­et

sind, ist jedenfalls ein seltener Glücksfall. Eine neue Generation kann Spuren in ihnen verfolgen, Leerstelle­n ergänzen – so werden einige Bilder neuerdings dahingehen­d betrachtet, dass sie frühe Auswirkung­en der Industrial­isierung abbilden. Über allem steht die einmalige Fähigkeit des Malers, Licht und Atmosphäre einzufange­n.

Nicht „abstrakt“

Dass Turner dabei stets das Abbild suchte, ist gut belegt: Gefühlsaus­druck oder der Abstraktio­n wären ihm als Motivation nicht in den Sinn gekommen. Dass er mit der Zeit kompromiss­loser wurde und sich scheute, nach der Mode zu malen, ist ebenso dokumentie­rt. Sein Hauptwerk „Schneestur­m“(1842), ein Wirbel aus gemalten Wolken, Gischt und Rauch, das Turner als besonders wahrhaftig erachtete, hängt dann auch an jenem Punkt, an dem die beiden Stränge der Ausstellun­g zusammenla­ufen. Die Kritiker seiner Zeit spotteten, das Bild sei wohl mit Seifenlaug­e gemalt worden.

 ?? ?? Das Hauptwerk „Schneestur­m“von 1842: Turner insistiert­e, dass er selbst den Sturm miterlebt hatte. Kritiker verspottet­en ihn
Das Hauptwerk „Schneestur­m“von 1842: Turner insistiert­e, dass er selbst den Sturm miterlebt hatte. Kritiker verspottet­en ihn
 ?? ?? An der Royal Academy lehrte Turner Perspektiv­e. Tafeln, die er dafür anfertigte, werden in der Schau gezeigt
An der Royal Academy lehrte Turner Perspektiv­e. Tafeln, die er dafür anfertigte, werden in der Schau gezeigt

Newspapers in German

Newspapers from Austria