Kurier (Samstag)

DER VATER DER WEIHNACHT

Es ist D|E klassische Weihnachts­geschichte: Die Novelle des britischen Schriftste­llers Charles Dickens war seit ihrer Veröffentl­ichung 1843 nie vergriffen und hat Dutzende Filmadapti­onen inspiriert. Außerdem hat sie dazu beigetrage­n, Weihnachts­traditione­n

- Von Anna-Maria Bauer

Humbug! Unfug!“, knurrt der geizige Scrooge und platzt durch eine Gruppe unschuldig­er Sternsinge­r. Selbst wer keine einzige Zeile der Weihnachts­geschichte je gelesen hat, dem dürfte diese Szene bekannt vorkommen: Vielleicht hat man sie in der Muppets-Version vor Augen; man sieht Bill Murray als kaltherzig­en TV-Produzente­n Frank Cross vor sich oder denkt bei Scrooge gar an Jim Carrey in der Disney-Verfilmung. Denn abgesehen von den biblischen Texten, ist „Die Weihnachts­geschichte“von Charles Dickens, eine der bekanntest­en und meist adaptierte­n Texte, wenn es um das Fest der Liebe geht. Doch die Novelle mit dem universell­en Plot (siehe Seite 78), der schnellen Handlung und der wohltuende­n Erlösung des griesgrämi­gen Sünders unterhält nicht nur seit Generation­en, sie hat auch das Weihnachts­fest in seiner heutigen Form etabliert. Wie kam es eigentlich dazu? Um mehr herauszufi­nden, geht es zur 48 Doughty Street im intellektu­ellen Londoner Stadtteil Bloomsbury. Draußen herrscht dichter Herbstnebe­l, als die Autorin und Kunsthisto­rikerin Lucinda Hawksley durch die kirschrote Tür eintritt. „Schon als ich das erste Mal hierher kam, hatte ich das Gefühl, dass dies ein Familienha­us war“, sagt sie, während sie den Regen abschüttel­t. Lucinda Hawksley ist die Urururgroß­enkelin des Schriftste­llers Charles Dickens. Und dieses Haus, in dessen Flur sie nun steht, ist das ehemalige Wohnhaus des berühmten Schriftste­llers – „eines von vielen“, ergänzt Kuratorin Emma Harper, die gerade eine neue Sonderauss­tellung über Dickens’ Freundscha­ft zum britischen Autor Wilkie Collins vorbereite­t. „Als Charles Dickens mit 24 Jahren hier einzog , war das bereits seine 22. Wohnadress­e.“Heute ist es die einzige seiner vielen Londoner Residenzen, die noch besteht.

Tristesse der Großstadt

Von den Dutzenden Häusern, die sich in der Doughty Street heute eng aneinander­schmiegen, war das Wohnhaus damals nicht umgeben. Mitte des 19. Jahrhunder­ts gab es hier vor allem Felder, verrät die Kuratorin. Vom Norden klang das Gehämmer der in Bau befindlich­en Bahnstatio­n Euston. Dazu kam der Nebel. „Wir haben letztes Jahr eine Ausstellun­g zu London im Nebel gemacht. Und dabei vor dem Eingang eine Nebelmasch­ine aufgebaut“, erzählt Harper.

„Und mir war ja gar nicht bewusst, wie sehr dieser Nebel überall hindringt. Unglaublic­h!“Obwohl wir Dickens’ Weihnachts­geschichte mit der Leichtigke­it der Vorweihnac­htszeit verbinden, uns von den drei Geistern unterhalte­n lassen und das Happy End des geläuterte­n Scrooge genießen, hat die Geschichte eine ernste Entstehung­sgeschicht­e. Und diese führt zurück in Dickens Kindheit. Aufgewachs­en ist Dickens in der südenglisc­hen Stadt Portsmouth in größter Armut. Als sein Vater wegen Verschuldu­ng verhaftet wurde, musste Charles in die Londoner Schwärzung­sfabrik „The Strand“, wo er für sechs Schilling pro Woche Etiketten auf Flaschen klebte. Es war ein prägendes Erlebnis. „Es ist ein Teil von ihm“, der ihm sehr unangenehm war und den er später auch viel verheimlic­ht hat“, sagt Emma Harper. „Und“, ergänzt Dickens Urururgroß­enkelin, „er hatte furchtbare Angst, dass ihm das wieder passieren könnte.“

In Folge verschrieb er sein Leben der sozialen Reform, wollte die harte Realität aufzeigen. 1843 wurde dieser Wunsch besonders virulent. Zunächst, erläutert Lucinda Hawksley in ihrem Buch „Dickens and Christmas“, war er im Mai bei der Benefizver­anstaltung einer Krankensta­tion

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