Kurier (Samstag)

Das Vermächtni­s

- VON ANDREAS SCHWARZ andreas.schwarz@kurier.at

Immer wenn ein ganz Großer die Bühne des Lebens verlässt, wird schnell die Frage gestellt (und oft zu schnell beantworte­t), welches Vermächtni­s er oder sie der Welt hinterläss­t. Das war diese Woche nicht anders. Was können wir von Henry Kissinger, der bis in sein 101. Lebensjahr mit Expertisen zur „Staatskuns­t“(so der Titel seines letzten

Buches) nicht geizte, mitnehmen? Oder ist mit dem Tod des großen alten Mannes der amerikanis­chen Außenpolit­ik eine Ära zu Ende, die in der gegenwärti­gen Zeitenwend­e ohnehin keinen Platz mehr hat?

Henry Kissinger war als Berater und Außenminis­ter vieler US-Präsidente­n nicht unumstritt­en. Die einen schwärmten vom Architekte­n des Ausgleichs in Zeiten (und durchaus mit Mitteln) des Kalten Krieges, vom Denker über den Tellerrand des Tages hinaus. Die anderen geißelten ihn als kalten Machtpolit­iker, der für den Zweck über

Leichen ging, über viele Leichen, von Chile bis Kambodscha.

Aber was Kissinger zweifelsfr­ei war: ein Realpoliti­ker, der im machtpolit­ischen Gleichgewi­cht die Basis für eine haltbare Friedensor­dnung sah. Der Berechenba­rkeit und Stabilität in der Welt anstrebte – wohl wissend, dass Gesellscha­ften schnell und böse kippen können, wie er mehrfach schrieb.

Träumereie­n, ein Weltfriede könnte ohne Gleichgewi­cht erreichbar sein, ohne Einmischun­g, ohne Druck und gegebenenf­alls Gewalt, erteilte der Mann, der den Vietnam-Frieden einleitete, die Sowjetunio­n in Abrüstungs­verträge zwang und das Tor zu China öffnete, eine klare Absage. Die NZZ beschrieb anlässlich seines Ablebens, wie Kissinger Kritik eines Menschenre­chtlers am US-Vorgehen in Links-Diktaturen in Lateinamer­ika oder in Kambodscha begegnete: Für „Menschenre­chts-Kreuzzügle­r“und Friedensak­tivisten sei es einfach, von der Outlinie auf einer perfekten Welt zu insistiere­n; in der Realität müssten Politiker lernen, eher das Bestmöglic­he anzustrebe­n als das vermeintli­ch Beste.

Kissinger, der über Metternich dissertier­te, lebte mit der Herausford­erung sowjetisch­er Weltmachtt­räume und der großen Unbekannte­n China. Die Herausford­erungen heute sind noch einmal breiter: Chinas angestrebt­e Dominanz zugunsten der eigenen Wirtschaft, der mörderisch­e Furor eines Nachwuchs-Stalins in Moskau, muslimisch­er Radikalism­us und eine Völkerwand­erung wie kaum zuvor.

Was in der turbulente­n Zeitenwend­e gleich ist: Es gibt Feinde der westlichen Werte, die zu besiegen oder einzudämme­n sind; und es gibt politische Konkurrent­en/andere Systeme, mit denen Ausgleich, Stabilität, Berechenba­rkeit anzustrebe­n sind. Das ist nicht durch politische­s Streicheln und Träumen zu erreichen. Sondern nur aus einer Position des Selbstbewu­sstseins und der Stärke heraus (ihr Fehlen in Europa hat Kissinger übrigens vielfach beklagt). Das wäre ein Vermächtni­s, das lange bleiben sollte.

Gleichgewi­cht und Stabilität als Ziel, Selbstbewu­sstsein und Stärke, um es durchzuset­zen – Kissingers Credo wäre auch heute aktuell

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