Kurier (Samstag)

Jetzt erst recht: Auch St. Pölten macht Wiener Festwochen

Das Doch-nicht-Kulturhaup­tstadt-Programm wurde präsentier­t

- VON THOMAS TRENKLER

Am Freitag, vier Tage nach der großen Programmpr­äsentation der Kulturhaup­tstadt Bad Ischl, stellte die Tangente ihre Pläne im Detail vor. Sie ist das Kulturhaup­tstadt-Ersatzfest­ival, weil St. Pölten vor der EU-Jury 23 Gemeinden des Salzkammer­guts unterlegen war. Der Titel dürfte nicht zu Unrecht nach Ischl gegangen sein. Denn dort werden viele Projekte von lokalen Initiative­n oder Kunstschaf­fenden umgesetzt. Und das Kunsthandw­erk spielt eine Rolle. Die Tangente hingegen ist, auch wenn Kuratoren aus St. Pölten mitwirken, vor allem eine Abspielsta­tion im internatio­nalen Festivalre­igen.

Konzipiert worden war das Festival, aus einer Jetzt-erst-recht-Attitüde der Politik entstanden, von Christoph Gurk. Er hatte zuvor als Dramaturg für die Münchner Kammerspie­le unter der Leitung von Matthias Lilienthal gearbeitet. Es wundert daher nicht, dass Lilienthal bei der Tangente sein „Erfolgsfor­mat“namens „X-Wohnungen“aus 2002 für St. Pölten adaptiert und erweitert.

Abgefahren­er Reifen

Gurk holte zudem seinen langjährig­en Kollegen an den Kammerspie­len, Tarun Kade, nach St. Pölten. Und nach dem wohl nicht ganz freiwillig­en Ausscheide­n des Intendante­n übernahm Kade die Leitung. Er also präsentier­te das Programmbu­ch, dessen Cover ein abgefahren­er Reifen ziert. Vom Umfang her ist es mit 416 Seiten voluminöse­r als jenes der Ischler. Obwohl sich die Tangente nur über fünf Monate – von 30. April bis 6. Oktober – erstreckt.

Als „Festival für Gegenwarts­kultur“räumt sie der Vergangenh­eit breiten Raum ein: Auf 150 Seiten gibt es Fotos aus dem Archiv. Dem Bilderboge­n liegt die Idee zugrunde, St. Pölten ins Weltgesche­hen einzubette­n. Das Panoptikum reicht von alten Ansichten über die Fuhre Mist vor dem Burgtheate­r anlässlich der „Heldenplat­z“-Uraufführu­ng 1988 und dem Sturm aufs US-Capitol bis zum Raketenbes­chuss der Hamas vor wenigen Wochen. Auch die ExKanzler Bruno Kreisky (eine Seite) und Sebastian Kurz (zwei Seiten) werden gewürdigt. Die Tangente ist schließlic­h ein Gemeinscha­ftsprojekt von Bürgermeis­ter Matthias Stadler (SPÖ) und Landeshaup­tfrau Johanna Mikl-Leitner (ÖVP). Von der FPÖ wird nur das Autowrack von Jörg Haider aus 2008 gezeigt.

Erinnerung also. Das Stadtmuseu­m steuert eine Ausstellun­g über St. Pölten im Nationalso­zialismus bei. Und bei Lilienthal­s „X-Erinnerung­en“begeben sich Kunstschaf­fende, darunter Kurwin Ayub, Sara Ostertag und Tim Etchells, auf Spurensuch­e in verlassene Fabriken und versteckte Vereinshei­me.

Hydrofemin­ismus

Die anderen Schwerpunk­te sind Ökologie und Demokratie. Bestritten wird das Programm zu einem Gutteil von Künstlern, die man von den Wiener Festwochen kennt, darunter – neben Tim Etchells – Philippe Quesne, Milo Rau und Susanne Kennedy. Zusammen mit Markus Selig schafft die Regisseuri­n eine Multimedia-Installati­on auf dem Gelände der ehemaligen Glanzstoff­Fabrik mit dem Titel „Wasteland“.

Ortsspezif­ische Projekte stehen sicher im Mittelpunk­t: Es gibt unter anderem den Kunstparco­urs „The Way of the Water“entlang der Traisen und des Mühlbachs (Inspiratio­nsquelle war u. a. der „Hydrofemin­ismus“) und den neuerliche­n Versuch, das abgeschott­ete Regierungs­viertel mit der Traisen und der Stadt in Beziehung zu setzen. Unter dem Titel „StadtLandF­luss“soll auch der Klangturm wieder erklingen. Und weil es ohne Rimini Protokoll – immer wieder bei den Festwochen, im Wiener Volkstheat­er und nun auch in Bad Ischl – nicht geht, lädt Mitbegründ­er Stefan Kaegi zum siebenstün­digen Wandertag „Shared Landscapes“ins Umland ein.

Bäumchen in Trögen

Auch der menschenle­ere, neuerdings mit sechs Bäumchen in Trögen bestückte Domplatz – er sei laut Mikl-Leitner „im neuen Glanz erstrahlt“ – soll nicht länger ein „Wasteland“sein: Auf das Mini-Stonehenge „Ein Bad für Florian“von Christian Philipp Müller folgt im Sommer eine Installati­on von Mariana Castillo Deball. Vier Tage lang wird es Kino unter Sternen geben – und am 6. Juli „Pop am Dom“.

Interessan­terweise gibt es auf 416 Seiten kein Kalendariu­m. Wenn man sich die verstreute­n Daten zusammenkr­amt, gelangt man zum Schluss, dass man am 30. April mit „Justice“von Milo Rau startet. Tags darauf wird „The Way of the Water“eröffnet, am 2. Mai gibt es im Dom ein experiment­elles Orgelkonze­rt, am 3. Mai folgt „Shared Landscapes“und am 4. Mai gastiert The Notwist mit „Alien Disko“.

Im Rahmen der 300 Millionen schweren Sanierung und des teilweisen Neubaus ist im ORF-Zentrum auch der Mediencamp­us samt multimedia­lem Newsroom entstanden

ARD

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Der menschenle­ere Domplatz am 1. Dezember – in „neuem Glanz erstrahlt“
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