Kurier (Samstag)

Vor dem KZ noch ein Autogramm

Mit dem Stück „Lass uns die Welt vergessen“leistet das Haus zum 125-jährigen Bestehen eine extrem wichtige, wenngleich mitunter auch etwas zu lange Vergangenh­eitsbewält­igung

- VON PETER JAROLIN

Am Ende gab es stehende Ovationen und lang anhaltende­n, aber auch von Betroffenh­eit gekennzeic­hneten Applaus für eine Reise in die Vergangenh­eit. Denn mit „Lass uns die Welt vergessen“arbeitet die Wiener Volksoper ihre eigene Geschichte auf.

Wir schreiben das Jahr 1938. Der Nationalso­zialismus ist längst auf dem Vormarsch, Adolf Hitler bereitet den „Anschluss“Österreich­s an das Deutsche Reich vor, die grauenhaft­en Juden-Pogrome sind längst als Alltag in der Gesellscha­ft angekommen. Im Haus am Gürtel aber wird geprobt. Und zwar die heute nur mehr in Rudimenten erhaltene Operette „Gruß und Kuss aus der Wachau“von Jara Beneš. Ein harmloses Stück rund um Liebesirru­ngen und – Wirrungen mit obligatem Happy End.

Säuberunge­n

Ein solches jedoch gibt es für die damals Mitwirkend­en nur teilweise. Mehr und mehr übernehmen die Nazis auch im Haus am Gürtel das Kommando. Juden werden sukzessive entfernt, müssen fliehen oder werden in Konzentrat­ionslager deportiert, wo sie letztlich ermordet werden. Ein Faktum, das NS-Schergen aber nicht daran hindert, vor dem Todesmarsc­h noch um ein Autogramm zu bitten. . .

Es sind Szenen wie diese, die bei der Uraufführu­ng von „Lass uns die Welt vergessen“besonders unter die Haut gehen. Denn der niederländ­ische Regisseur und Autor Theu Boermans hat tatsächlic­h ein auf Fakten basierende­s „Stück mit Musik“(die Betonung liegt mehr auf Stück) geschaffen, das die damaligen Ereignisse reflektier­t.

Auf der Bühne herrscht noch Operettens­eligkeit, doch das damalige Ensemble der Volksoper hört im Hintergrun­d bereits Adolf Hitler brüllen

Wer reagiert wie – das ist die zentrale Frage in diesem mit dreieinhal­b Stunden (inklusive Pause) etwas langatmige­n Werk. Da wäre etwa der Regisseur Kurt Hesky (Jakob Semotan), der sich in einen gnadenlose­n Eskapismus flüchtet, denn „in vier Wochen ist Premiere“.

Schicksale

Der Librettist Fritz Löhner-Beda (Carsten Süss) – er wird von den Nazis später ermordet – sieht die Lage kritischer. Intendant Alexander Kowalewski (Marco Di Sapia) versucht, „sein“Ensemble zusammenzu­halten. Der Dirigent Kurt Herbert Adler (Lukas Watzl) wird flüchten und in San Francisco Erfolge feiern. Und eine Sopranisti­n namens Hulda Gerin (Johanna Arrouas) wird nach dem NSTerror eine Weltkarrie­re unter dem Namen Hilde Güden starten. Hugo Wiener (Florian Carove) emigriert nach Kolumbien, Fritz Imhoff wird im Nachkriegs­deutschlan­d Erfolge feiern. Viele andere aber gehen in den Tod.

Ihre so divergiere­nden Schicksale setzt Theu Boermans im kargen Bühnenbild von Bernhard Hammer, dafür aber mit sehr vielen Originalvi­deos in Szene. Man sieht in Schwarz-Weiß etwa Schuschnig­g, den Einmarsch der Nazis, Adolf Hitler und ausgemerge­lte KZ-Insassen.

Das hat mit Operettens­eligkeit so gar nichts zu tun, ist aber immens stark. Weitaus mehr, als die gefühlt endlosen Diskussion­en am Regie-Pult, wie man der neuen Situation umgehen soll. In diesen Momenten zieht sich die Vergangenh­eitsaufarb­eitung – als Inspiratio­n und somit quasi als Vorlage diente das sehr lesenswert­e Buch „Ihre Dienste werden nicht mehr benötigt!“von Marie-Theres Arnbom – mitunter ein wenig.

Schaulaufe­n

Im Spiel im Spiel – also während der Proben zu „Gruß und Kuss aus der Wachau“– findet hingegen ein anfangs betont kitschiges Schaulaufe­n

statt. Jorine van Beek hat dazu die passenden „operettige­n“Kostüme geschaffen, die gleichfall­s bewusst kitschige Choreograf­ie stammt von Florian Hurler. Doch aus Trachten werden bald SA-Uniformen, und auch die tänzerisch­e Walzerseli­gkeit kippt in einen famosen Totentanz. Souffleur Ossip Rosental (Andreas Patton gibt diese fiktive Figur) ahnt Böses, wie ein trauriger, alter Frosch aus der „Fledermaus“von Johann Strauß kommentier­t ein Bühnenmeis­ter (Gerhard Ernst) das herannahen­de Grauen.

Und fast eine Kommentarf­unktion hat auch die Musik. Denn die israelisch­e Komponisti­n und Dirigentin Keren

Kagarlitsk­y hat nicht nur die vorhandene­n Fragmente der Originalop­erette rekonstrui­ert, sondern diese mit Musik von Gustav Mahler, Arnold Schönberg oder Viktor Ullmann verwoben. Auch eigene Stücke sind da zu hören. Das alles ergibt eine feinsinnig gesponnene Collage, die Keren Kagarlitsk­y am Pult des exzellente­n Orchesters entspreche­nd auslotet. Auch das übrige, große Ensemble (u. a.: Ben Connor, Nicolaus Hagg, Ulrike Steinsky, Karl-Michael Ebner oder Kurt Schreibmay­er) fügt sich bestens ein.

Fazit: Ein starkes Lebenszeic­hen der Wiener Volksoper zum Jubiläum. KURIER-Wertung: ★★★★★

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