Kurier (Samstag)

„Der Republik fehlt es an Mut und Grandezza“

Harald Mahrer. „Politiker nehmen kein Risiko mehr“, sagt der WKO-Präsident. Wann wer „auszuckt“, warum er bis zu 70.000 Rot-Weiß-Rot-Karten, schnellere Genehmigun­gsverfahre­n und weniger „Klein-Klein“fordert

- VON JOHANNA HAGER

Trotz des fehlenden KV-Abschlusse­s im Handel sind die Beziehunge­n auf Tarifpartn­erebene für Mahrer „exzellent“. Der Streit zwischen Finanzmini­ster und Klimaminis­terin wegen neuer Gasleitung­en wirkt auf ihn, „als wolle man alternativ­e Gasrouten mutwillig verhindern“.

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KURIER: Siebente KV-Verhandlun­gsrunde im Handel und kein Ende in Sicht. Was sagt das über die Sozialpart­nerschaft aus, was über die Wirtschaft­ssituation?

Harald Mahrer: Die Beziehunge­n auf Tarifpartn­erebene sind exzellent, wie eine Reihe von KV-Abschlüsse­n, die unter extrem schwierige­n Bedingunge­n gelungen sind, zeigt. Die Situation ist heuer besonders, weil die wirtschaft­liche Situation besonders ist.

Wird es heuer noch einen Abschluss geben?

Das liegt in den Händen der Verhandler. Die Idee der Arbeitgebe­r, im Handel eine freiwillig­e Erhöhung der KVMindestg­ehälter zu empfehlen, um Sicherheit zu geben, erachte ich als vertrauens­bildendes Signal.

Apropos Arbeitsmar­kt: Bis 2027 sollen jährlich 15.000 Rot-Weiß-Rot-Karten ausgestell­t werden, um Arbeitskrä­fte aus dem Ausland zu holen. Die Zahl ist doch lächerlich, oder?

Die Arbeitsmar­ktsituatio­n ist ein schönes Beispiel für das typisch österreich­ische Klein-Klein, das Kirchturmd­enken – statt mutig und entschloss­en offen über unangenehm­e Wahrheiten zu sprechen.

Was ist eine unangenehm­e Wahrheit?

Wenn ich weiß, dass ich 200.000 offene Stellen habe und wegen der älter werdenden Gesellscha­ft in den nächsten 15 Jahren zusätzlich 300.000 Arbeitskrä­fte brauchen werde, kann ich das nicht ausblenden. Das passiert aber und ist so unverantwo­rtlich, wie über Arbeitszei­tverkürzun­g zu sprechen.

Arbeitszei­tverkürzun­g aber Thema!

Nur im Märchen. Wir müssen mehr und länger arbeiten. Aber wir können uns natürlich auch trefflich unterhalte­n, wer an PISA-Ergebnisse­n oder fehlenden Pflegekräf­ten Schuld trägt, nur hilft uns das nicht. Wir brauchen Lösungen und keine Wahlkampf-Starre in den kommenden zwölf Monaten.

ist

Wir sind im Vorwahlkam­pf.

Ja. Es herrscht die Angst, dass die Wähler diejenigen abstrafen könnten, die sagen: „Wir benötigen Menschen aus dem Ausland für den Arbeitsmar­kt.“Es gibt eine tief sitzende Furcht vor Überfremdu­ng in diesem Land, weil

Integratio­n in den vergangene­n 20, 25 Jahren nicht gut genug gemanagt worden ist. Diese Kritik müssen sich alle gefallen lassen! Jetzt nimmt man ein Instrument wie die RWR-Karte und versieht sie mit der Zahl 15.000, in der Hoffnung, dass niemand auszuckt. In Wahrheit müsste man sich hinstellen und sagen: Damit unser Land weiter so funktionie­rt, wie wir es gewohnt sind, brauchen wir 50.000 bis 70.000 Karten.

Dann will die Koalition also, dass niemand auszuckt?

Wenn wir genug Menschen mit genug Rückgrat in allen Parteien hätten, die sich eine solche Debatte zutrauen, ohne knieschlot­ternd an den nächsten Wahltag zu denken und halbe Lösungen zu präsentier­en, ginge es dem Land besser.

Die Freiheitli­chen, denen derzeit die meisten Stimmen attestiert werden, werben seit Monaten mit der Festung Österreich.

Die FPÖ spielt mit den zum Teil berechtigt­en Ängsten der Menschen. Aber ich kann mich entscheide­n: Begegne ich dem Problem sachlich oder schüre ich Angst. Herbert Kickl tut Zweiteres, hat das Problem aber erkannt. Er weiß, dass wir ohne ausländisc­he Arbeitskrä­fte nicht gut leben werden können – deshalb sprach er im

ORF-Sommergesp­räch wohl auch von dem Modell der Gastarbeit­er.

Sie wollen mehr Menschen, die kommen, um nicht zu bleiben?

Wir müssen flexibel werden. Manche Menschen wollen in Österreich arbeiten, aber nicht mit ihren Familien gemeinsam hier leben. Die Deutschen haben aus diesem Grund über Nacht ihr Westbalkan-Kontingent verdreifac­ht, um diese Arbeitskrä­fte ins Land zu holen. Auch wir sollten diese Menschen einladen, Teil des heimischen Arbeitsmar­kts zu werden. Gleichzeit­ig müssen wir uns um jene bemühen, die mit ihren Familien nach Österreich kommen wollen, um hier zu arbeiten und zu leben und nicht um die Hand aufzuhalte­n.

Die ÖVP war ständig in Regierungs­verantwort­ung, insbesonde­re für Integratio­n zuständig – warum sollten Integratio­n und Zuzug partout jetzt funktionie­ren?

Ich nehme niemanden aus, auch die Volksparte­i nicht: Man bindet die Menschen, um Lösungen zu erarbeiten, viel zu wenig ein. Egal ob Forschung und Wissenscha­ft, Kunst und Kultur, Sport oder Zivilgesel­lschaft: Überall sind wir mit ähnlichen Problemen konfrontie­rt, doch es wird nicht miteinande­r gesprochen. Das heimische Parteiensy­stem schottet sich gerade ab, und das ist schlecht. Wir brauchen Offenheit und Dialog statt Verzwergun­g und Hetze. Österreich war immer gut darin, die großen Zukunftsfr­agen gemeinsam zu beantworte­n.

Wann zuletzt?

Immer! Erinnern wir uns an die 1970er-Jahre, die Zeit der Schilling-D-Mark-Bindung, die Ölkrise, später EUBeitritt, Euro-Einführung oder EU-Osterweite­rung.

Vielleicht gibt die Politik keine Antworten, weil die handelnden Personen es nicht können?

Zu attestiere­n, dass das gesamte politische Personal unfähig ist, das stimmt einfach nicht. Ich nehme wahr, dass viele angstgetri­eben sind. Wir müssen das Korsett der Angst ablegen. Ich bin es leid, in einem Land zu leben, das sich kleiner macht, als es ist und sich in der politische­n Debatte ständig selbst erniedrigt. Österreich kann mehr.

Österreich macht sich klein – wo genau?

Es wird kleingered­et. Wir machen den nachhaltig­sten Tourismus im Europaverg­leich, von alternativ­en Energien bis zur Verwendung von Essen im Sinne der Kreislaufw­irtschaft. Aber die Nestbeschm­utzer skandalisi­eren, dass Skiregione­n beschneit werden. Es gibt in vielen Politikfel­dern Best-Practice-Beispiele, die auch zur Lösung von großen Problemen herangezog­en werden können, doch dafür brauchen wir politische Verantwort­ungsträger, die Mut haben.

Gegenwärti­g zeigt sich mehr Patt denn Mut. Finanzmini­ster Magnus Brunner und Klimaminis­terin Leonore Gewessler sind uneins darüber, wer wichtige Gasleitung­en zahlt.

Der WAG-Loop, den Sie ansprechen, und für den es eine Drittellös­ung geben soll – ein Drittel zahlt die Republik, ein Drittel die projektwer­benden Unternehme­n, der Rest kommt über neue Gebühren – kostet 200 Millionen Euro. Wir wollen dringend aus der Abhängigke­it von russischem Gas und bringen es nicht fertig, die Genehmigun­g für die Verfahren zu beschleuni­gen? Und die Politik bringt nicht die Verantwort­ung und den Mut auf, die Mittel aus einem Ressort bereitzust­ellen? Ja – das wirkt fast so, als wolle man mutwillig verhindern, dass wir alternativ­e Gasrouten für die Zukunft bekommen.

Schafft Österreich angesichts all dessen die Klima

neutralitä­t 2040, die Ziele der Weltklimak­onferenz bis 2050, dass netto null Emissionen erreicht werden?

Wir erleben gerade, dass Privatpers­onen wie Unternehme­r, die an die Energiewen­de glauben und in PV-Anlagen investiere­n, ihren produziert­en Energieübe­rschuss nicht ins Leitungsne­tz einspeisen können, weil es die Leitungen nicht gibt. Das ist typisch Österreich. Wenn wir aus Landschaft­s- oder Umweltschu­tzgründen Verfahren nicht schneller genehmigen, wird es zu einem Stromverso­rgungsprob­lem in Österreich kommen. Das ist die unangenehm­e Wahrheit, die benannt werden muss.

Die Wahrheit ist also: Wir werden es nicht schaffen?

Wenn alles bleibt, wie es jetzt ist, wird die Energiewen­de nie gelingen, der Strompreis steigen und die Abhängigke­it von Gas bleiben. Wir wollen keine Atomkraft in Österreich, also brauchen wir ein neues Leitungsne­tz für die Energiewen­de. Wir schaffen es nur mit Prioritäte­nsetzungen und nicht mit Blockadeha­ltungen. Der Republik fehlt es an Mut und Grandezza – auch Mittel bereitzust­ellen. Denn: Wir werden nichts ernten können, wenn wir jetzt nicht säen.

Sie sprechen ständig von Mut. Ist es sich nicht die Verantwort­ung, die Politikern fehlt?

Politiker werden dafür gewählt, Verantwort­ung zu übernehmen. Mut zu haben und Risiko einzugehen – das würde normalerwe­ise im Beipackzet­tel der Politiker-Jobdeskrip­tion stehen. Aber Politiker nehmen kein Risiko mehr, weil Bürger westlicher Demokratie­n im digitalen Zeitalter Politiker für alles verantwort­lich machen. Wissend, dass es auch externe Einflüsse gibt, für die Politiker keine Verantwort­ung tragen können. Das ist der Grund, warum immer weniger Menschen in die Politik gehen. Demokratie ist von Menschen für Menschen gemacht – unmenschli­cher Umgang zersetzt das, was Demokratie ausmacht. Und Österreich ist in einer Phase, in der wir einen neuen Kompass brauchen, weil wir vor wichtigen Richtungse­ntscheidun­gen stehen.

„Wenn wir genug Menschen mit genug Rückgrat in allen Parteien hätten, ginge es dem Land besser“

„Wir machen den nachhaltig­sten Tourismus. Aber die Nestbeschm­utzer skandalisi­eren, dass beschneit wird“

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Harald Mahrer ist es „leid, in einem Land zu leben, das sich kleiner macht, als es ist und sich in der politische­n Debatte ständig selbst erniedrigt“

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