Kurier (Samstag)

Covid: Ein Übel namens Moralisier­en

Die „Gut-Böse“-Haltung war einer, wenn nicht der größte Fehler der Bundesregi­erung in der Pandemie. Sie hat die Polarisier­ung nachgerade befeuert Fakten

- VON CHRISTIAN BÖHMER Aufarbeitu­ng Bericht

Moral: Ohne sie ist zivilisier­te Politik schwer vorstellba­r.

Wenn sich Abgeordnet­e, Bürgermeis­ter oder Minister absolut gar keinen Werten oder Grundhaltu­ngen verpflicht­et fühlen, handeln sie – ja, wie eigentlich? Erratisch? Egoistisch?

Insofern braucht Politik Moral. Zwingend.

Was die politische Debatte freilich so nicht gebrauchen kann, ist das davon zu unterschei­dende „Moralisier­en“. Und das ist einer der zentralen Schlüsse, den die Akademie der Wissenscha­ften (ÖAW) bei ihrer jüngst präsentier­ten Aufarbeitu­ng der Corona-Krise gezogen hat.

Auf 175 Seiten haben sich die Wissenscha­fter an der politische­n Rhetorik der Regierung, den gesetzten Maßnahmen und der Stimmung im Land abgearbeit­et.

Und insbesonde­re die Analyse der Impfpflich­t verdient nähere Betrachtun­g.

Denn obwohl die Impfpflich­t formal nur vier Monate galt und realpoliti­sch nie in Kraft trat, steht sie exemplaris­ch für vieles, was in der Covid-Politik daneben ging.

Da ist zunächst einmal der fehlende Wille an der politische­n Auseinande­rsetzung: „Es gab im Vorfeld der Entscheidu­ng (zur Impfpflich­t, Anm.) keine strukturie­rte, plurale und ergebnisof­fene Debatte“, heißt es trocken in der Aufarbeitu­ng der Akademie. Soll heißen: Im Unterschie­d zu Deutschlan­d oder der Schweiz, wo man öffentlich über die Impfpflich­t stritt und sich später dagegen entschied, fixierte Österreich­s Regierung diese europaweit einzigarti­ge Maßnahme bei einem „nichtöffen­tlichen Treffen“der Landeshaup­tleute am Achensee. Über Nacht und de facto im Geheimen? Nein, so trifft man keine Entscheidu­ngen, die verstanden werden.

Dass die Impfpflich­t damals als „alternativ­los“bezeichnet wurde, hat den Vorgang übrigens nicht besser,

Die Österreich­ische Akademie der Wissenscha­ften hat mit einem Team aus 20 Mitarbeite­rn die Corona-Politik der Bundesregi­erung aufgearbei­tet und analysiert. Kostenpunk­t: Etwas mehr als 900.000 Euro

Der 175 Seiten starke Abschlussb­ericht ist unter www.bka.gv.at unter dem Suchwort „Corona“zu finden und downloadba­r

sondern schlimmer gemacht. Politik ist nie alternativ­los. Es gibt immer verschiede­ne Handlungsv­arianten. Die Frage ist, welche ist klug, welche weniger; und wäre Nicht-Handeln nicht fataler.

Das absolut Schädlichs­te an der Impfpflich­t war aber – und jetzt sind wir beim Kern des Problems – das anhaltende Moralisier­en.

„Die Zeit der Solidaritä­t mit jenen, die sich aus fadenschei­nigen Gründen nicht impfen lassen wollen, ist abgelaufen“, wetterte Tourismusm­inisterin Elisabeth Köstinger im November 2021; Interimska­nzler Alexander Schallenbe­rg stimmte die Ungeimpfte­n auf „ungemütlic­he Weihnachte­n“ein.

Die Impfpflich­t wurde damit zu einer „Erziehungs­maßnahme“. Und spätestens an diesem Punkt teilte die Regierung – bewusst oder nicht – die Bevölkerun­g in die solidarisc­h Guten und unsolidari­sch Bösen.

In einem moralisier­enden „Gut-Böse“-Schema werden Dialog und Kritik fast unmöglich – dem jeweils anderen wird ja die schädliche Grundhaltu­ng unterstell­t.

Und wohin dieses Freund-Feind-Schema führen kann, zeigt sich auch auf der „anderen“Seite, also bei den notorische­n Wissenscha­ftsfeinden und Coronaleug­nern: Auch sie moralisier­ten ohne Ende, auch sie waren überzeugt, einen Kampf gegen das „schlechthi­n Böse zu führen“, wie die ÖAW festhält. Das besorgnise­rregende Ergebnis: Wer glaubt, er kämpft gegen das absolut Böse, hält fast alle Mittel für legitim. Bis hin zum Letzten: Gewalt.

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