Selenskijs Stern sinkt – und ein Rivale setzt ihn unter Druck
Offener Zwist zwischen Präsident und Militärchef lähmt an der Front
Auf seiner Jahrespressekonferenz war Wolodimir Selenskij nicht oft zum Lachen zumute. Die Fragen zum Kriegsverlauf waren alle wenig hoffnungsvoll, die Antworten auch. Besonders unangenehm schien dem Präsidenten aber ein Thema: Sein Verhältnis zu Armeechef Walerij Saluschnij.
Lange schon gehen in Kiew Gerüchte um, dass die beiden sich nicht nur entfremdet hätten, sondern dass sie mittlerweile ernste Rivalen seien. Die Kommunikation sei „kalt und bissig“, wird erzählt, der Präsident demütigt seinen Militärchef mitunter mit Sätzen wie „Wir sind 200 Meter vorgerückt? Das ist ja heroisch!“
Warum das so ist? Ein Grund sind die fehlenden Erfolge an der Front, das setzt beide unter Druck. Der andere ist, dass diesen Druck nur der Präsident zu spüren bekommt: Seine Umfragewerte sinken seit Herbst stetig, nur mehr 62 Prozent vertrauen ihm, nicht mehr knapp 90 wie zu Kriegsbeginn. Saluschnij hingegen wird unverändert als Volksheld wahrgenommen – und man traut ihm mehr zu: In einer Stichwahl um das Präsidentenamt würden derzeit beide gleich viele Stimmen bekommen.
Tabubruch
Zwar macht der Militärchef offiziell keine Anstalten, in den politischen Ring zu steigen, dennoch steigt im Präsidialamt die Nervosität. Das liegt daran, dass Saluschnij seit Kurzem auch öffentlich stichelt. Im Herbst sagte er in einem Interview mit dem Economist, die Chancen auf einen Sieg der Ukraine stünden mit der derzeitigen Ausrüstung praktisch bei null – ein Tabubruch, weil es das komplette Gegenteil dessen ist, was Selenskij seit Kriegsbeginn trommelt.
Der reagierte dementsprechend verärgert. Das „erleichtert dem Aggressor nur die Arbeit“, grummelte er, seither ist die Feindschaft offensichtlich. Immer wieder rücken Parteifreunde aus und fordern Saluschnijs Rauswurf, zugleich wettert die Opposition gegen den Präsidenten – sie hofft auf den Armeechef als potenziellen Kandidaten.
Das sind Debatten, die in normalen Zeiten üblich sind – und auch wünschenswert. Aber in Kriegszeiten?
An sich ist es nicht verwunderlich, dass die Unzufriedenheit mit Selenskij steigt. Er ist seit Kriegsbeginn jene Person, auf die sich alle Hoffnungen konzentrieren, darum spürt er jetzt den Frust der Menschen. Ein Schicksal, das auch Winston Churchill ereilte.
Mittlerweile mehren sich aber die Stimmen, die Selenskijs Dauer-Optimismus kritisch sehen. In der Financial Times attestierte ihm nun eine
Reihe an Regierungsberatern einen „Mangel an Realismus“, der nicht nur Vertrauen der Bevölkerung in die Regierung zerstöre, sondern auch für Irritationen im Westen sorge. Carnegie-Experte Konstantin Skorkin sagt sogar, Selenskij sei eine „Geisel seines Images als Gewinner“.
Keine klare Strategie
Noch hat der Präsident die Rückendeckung aus der Bevölkerung, Verhandlungen mit Moskau will kaum wer. Doch die Kriegsmüdigkeit wachse, sagt Skorkin, und das könnte den Präsidenten bald vor ein Problem stellen: Eine Strategie, wie der Stillstand an der Front zu überwinden ist, sei nämlich nicht sichtbar.
Das sah man auch bei der Pressekonferenz. Dass sich der Militärchef 450.000 neuer Soldaten wünsche, um den von Selenkijs geforderten Sieg zu erreichen, kommentierte der nur so: „Dafür brauche ich mehr Argumente.“