Kurier (Samstag)

Das Einläuten des Jahrhunder­ts

Vor 100 Jahren übertrug die BBC erstmals die Neujahrssc­hläge von Big Ben. Zeit, die wackelige Entstehung­sgeschicht­e der Glocke Revue passieren zu lassen

- AUS LONDON ANNA-MARIA BAUER

Ob A. G. Dryland erleichter­t war, dass die Kältewelle des Novembers nachgelass­en hatte und London nicht wie Glasgow den heftigsten Schneefall in 33 Jahren verzeichne­te, als er am 31. Dezember 1923 auf das Dach gegenüber des Londoner Parlaments kletterte? War ihm bewusst, dass er Geschichte schrieb, als er kurz vor Mitternach­t die Aufnahmege­räte auspackte? Sorgte er sich, dass er zu viel Straßenlär­m aufnehmen würde, weil er nicht zum Uhrturm selbst gelassen wurde, sondern sich auf einem gegenüberl­iegenden Dach befand? Aber vielleicht war der BBC-Ingenieur auch komplett auf seine Aufgabe konzentrie­rt, als er Punkt Mitternach­t das allererste Mal die Neujahrssc­hläge des Big Ben aufnahm. Und damit eine Tradition in Gang setzt.

Seit Silvester 1923 – und damit heuer zum 100. Mal – läutet die BBC das neue Jahr mit der Übertragun­g des Westminste­rGlockensp­iels ein und verhilft dem ohnehin bekanntest­en Wahrzeiche­n zu noch mehr Reichweite. Denn kein englisches Wahrzeiche­n wird häufiger fotografie­rt als der Uhrturm des Parlaments. Ein Fakt, den man sofort glaubt, wenn man die Londoner Westminste­r-Brücke überquert, und dort – egal zu welcher Tages- oder Jahreszeit – begeistert­e Touristen (oder Wahlbriten) findet, die versuchen mithilfe von Selfie-Sticks oder Fremden das beste Foto mit sich selbst und dem ikonischen Turm zu bekommen, der seit April 2022 wieder ohne Gerüst zu sehen ist.

Versteckt

Der wahre Big Ben ist auf den Fotos freilich nicht zu sehen. Denn damit ist eigentlich die „Great Bell“, die größte Glocke gemeint. Deren Entstehung­sgeschicht­e war jedoch alles andere als großartig. Am 6. August 1856 (145 Jahre nachdem die alte Pummerin aufgehängt wurde) wurden in Warners Gießerei nahe Stockton-on-Tees die Öfen angeheizt, doch etwas zu früh gejubelt, als die Gussform geöffnet und Englands (zu dem Zeitpunkt) größte Glocke zum Vorschein kam.

Wegen unpassende­r Straßenbed­ingungen sollte die Glocke auf Schienen und über den Seeweg nach London kommen. Doch am Hafen angekommen, stellte sich heraus, dass die Glocke nicht 14, sondern 16 Tonnen wog, und das Schiff „The Wave“musste erst für Reparatura­rbeiten an Land.

Verweht

Auf hoher See, wurde „The Wave“von einem derart heftigen Sturm ergriffen, dass man in London munkelte, Schiff und Glocke seien verloren gegangen. Endlich in der Hauptstadt angekommen, wurde die Glocke unter Begeisteru­ngsrufen der Schaulusti­gen auf einer Kutsche mit 16 weißen Pferden nach Westminste­r gezogen. Weil die Glocke zu groß zum Schwingen war, sollte sie durch Anschlagen zum Läuten gebracht werden. Doch noch während am Boden Tests durchgefüh­rt wurde (der Turm war noch nicht fertig), bildete sich durch den Hammerschl­ag ein Sprung. Streit über den Grund entfachte – und kurz darauf brannte das Feuer in den Öfen von Whitechape­l Bell Foundry, jener Gießerei, die den zweiten „Big Ben“goss. Diese schlug am 11. Juli 1859 dann das erste Mal im Uhrturm – allerdings nur für ein paar Monate. Schon wieder hatte sich ein Riss gebildet. Die größte der Viertelglo­cken übernahm vier Jahre die Stundensch­läge – bis Big Ben um 90 Grad gedreht und mit kleinerem Hammer ausgestatt­et, 1963 in Betrieb gehen konnte. Groß Ding braucht Weile. Wer ein Foto vom echten Big Ben machen möchte, kann seit Kurzem wieder Tickets für den Elizabeth Tower erwerben. Nach den 334 Stufen auf der engen Wendeltrep­pe hat man beim Ankommen eventuell den Eindruck, dass die Glocke doch schwingt – zumindest bis sich der Drehschwin­del legt.

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 ?? ?? Eine markante Kulisse im Wandel der Zeit: Die Sicht auf Big Ben vom Parliament Square aus in Richtung Themse in den 1920er Jahren ...
Eine markante Kulisse im Wandel der Zeit: Die Sicht auf Big Ben vom Parliament Square aus in Richtung Themse in den 1920er Jahren ...
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... und das Vergleichs­bild von fast derselben Stelle ein Jahrhunder­t später. Aufgenomme­n im Mai 2023 zur Krönung von König Charles

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