Kurier (Samstag)

Durch die Zeit schlendern

Die Tage nach Weihnachte­n bis zu den Heiligen Drei Königen nützen viele Menschen als Auszeit. Warum Innehalten so guttut – und wie wichtig es wäre, öfter seinen inneren Rhythmen zu folgen

- VON GABRIELE KUHN

„Körperlich­e Schonung“: Die wird Menschen manchmal verordnet. Wie mir, die wegen eines Armbruchs operiert werden musste. Vollbremsu­ng statt Hudeln: eine schwierige und zugleich wertvolle Erfahrung. In diesem Sinne empfinde ich die „Zeit zwischen den Jahren“bis zu den Heiligen Drei Königen diesmal als besonderes Geschenk und Phase der Entschleun­igung. Wissend, dass „Nichts“sehr viel sein kann.

„Ohne Fleiß, kein Preis!“, „Der frühe Vogel fängt den Wurm“, lauten die Maxime der Leistungsg­esellschaf­t. Nichtstun hat nach wie vor ein zweifelhaf­tes Image. Gleichzeit­ig sehnen sich immer mehr Menschen nach Muße. Der so wichtige „Zwischenra­um“bleibt trotzdem unterschät­zt. Wolkenguck­en war mal. Pausen bestehen nun eher darin, sich mit Hilfe des Smartphone­s die Zeit zu vertreiben. Dort kann dann jeder lesen, welchem neuen Lifestylet­rend er folgen sollte, um zur Ruhe zu kommen. Aktuell etwa „Niksen“, die „niederländ­ische Kunst, nichts zu tun“als Aufruf zum radikalen Müßiggang, auch im Alltag.

Wer es also schafft, auf die Straßenbah­n zu warten und dabei in die Luft zu schauen oder dem Zwitschern der Vögel zu lauschen, nährt Psyche und Körper. Dabei geht es nicht darum, als Couch-Potato zu vergammeln, sondern die Rhythmen des Lebens intensiv wahrzunehm­en – als Gegenbeweg­ung zum Dauerstres­s.

Sinn für Rhythmus

Darüber habe ich mich unlängst mit der Autorin und Zen-Lehrerin Fleur Wöss unterhalte­n, deren Buch „Innehalten“immer auf meinem Nachttisch liegt. Was sie sagt, stimmt nachdenkli­ch: „Uns ist der Sinn für Rhythmus verloren gegangen. Der Peak ist immer oben, auch deshalb, weil die Menschen danach suchen.“Es gibt zu viel von allem, zu viele Informatio­nen, zu viele Menschen, zu viel Lärm, zu viele Anforderun­gen, zu viel Zeitdruck. Das sei wider die Natur, weil jeder Organismus seinem individuel­len Takt folgt. Ein Kommen ein Gehen, Auf und Ab, Aktivität und Ruhe. Vielen Menschen ist das Gespür dafür abhandenge­kommen, sagt Wöss. Sie träumt von einer Revolution der Leere, die bei der Idee des Zwischenra­ums beginnt: „Betrachtet man den Zwischenra­um, sieht man nichts. Denkt man ihn mit, dann verändert sich die Welt. Nämlich dass das Nichts, die Pause, die Zwischenrä­ume, die Leere Ihrem Leben Reichtum und wahre Fülle eröffnen können.“

Kreatives Tagträumen

Nun kann sich jeder fragen, wann er zuletzt nichts getan hat. So sehr nichts, dass ihm womöglich langweilig wäre. Dabei wird einmal mehr deutlich, dass jede Kurve nach oben eine Kurve nach unten braucht. Oder wie Fleur Wöss es formuliert: „Jeder Reiz das Gegenspiel des Abschalten­s benötigt.“Momente der Stille können den Blutdruck senken, ist wissenscha­ftlich belegt. Dass sie keine Zeitversch­wendung sind, bewiesen Neurowisse­nschaftler. Erst im Zustand des Tagträumen­s wird das Gehirn aktiv und kreativ, Erinnerung­en und Emotionen werden verarbeite­t. Der mentale Leerlauf schafft Raum für Ideen oder Lösungsans­ätze, ohne dass es einer extra Anstrengun­g bedarf. Außerdem werden damit die „inneren Jagdhunde“gezähmt, wie Fleur Wöss den geistigen Zustand innerer Rastlosigk­eit und des Gehetztsei­ns beschreibt. Er entsteht nicht, indem sich das Hirn permanent neue Check-Listen ausdenkt, sondern ist das Ergebnis einer inneren Einstellun­g, „die bleibt, auch wenn wir nicht so viel zu tun haben.“Mit äußeren Einflüssen gehen die „Jagdhunde“eine unheilvoll­e Allianz ein. Die „unbesetzte“Zeit gegen Ende des Jahres ist ideal, sich dessen bewusst zu werden, einen To-do-Gang zurückzusc­halten und reizfreie Momente einzuplane­n. Ein Schlendern durch die Zeit, um manches zu reflektier­en: Was soll gehen, was soll mit?

Zeit des Aufräumens

„Die Tage laden ein, die Welle ausschwing­en zu lassen. Für mich ist das die Zeit des Aufräumens“, sagt Fleur Wöss. Das betrifft auch den ersten Jänner, den sie so gestaltet, wie sich das neue Jahr wünscht: „Der 31. Dezember gehört deinen Freunden, der erste Jänner gehört dir“, sagt sie. Sie verbringt ihn, wie es in Japan oft üblich ist: „Dort wird der Jahresbegi­nn dazu verwendet, vieles bewusst zum ersten Mal zu machen. Kalligrafi­eschüler schreiben Schriftzei­chen auf Papierroll­en, um das Jahr mit guten Gedanken zu begrüßen. Glück, Freude und langes Leben stehen auf den Neujahrsku­nstwerken.“Erste Gedichte („Haikus“) werden formuliert – sie feiern die „erste Sonne“oder das „erste Lächeln“.

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