Kurier (Samstag)

Freundscha­ft auf den ersten Blick

Speed Friending. Ruckzuck platonisch­e Freunde finden – das ist die Idee des neuen Kennenlern-Trends. Funktionie­rt das – und was macht gute Freundscha­ften wirklich aus?

- VON GABRIELE KUHN

Speed Dating – da war doch mal was. Bevor Apps wie Tinder erfunden wurden, fanden Menschen unter anderem auf diese Weise ihre neue Liebe.

Ein Kennenlern-Prinzip, das in Metropolen wie New York oder London gerade seine Renaissanc­e erlebt. Beim „Speed Friending“geht es aber nicht darum, den Mann oder die Frau fürs Leben zu finden, sondern schlicht neue Freunde. Menschen, mit denen man ins Kino geht, Party macht, Lieblingss­erien schaut, plaudert und lacht. Wie es funktionie­rt, ist einfach erklärt: Innerhalb weniger Minuten der persönlich­en Begegnung, meist in einem Lokal, soll jeder für sich herausfind­en, ob ein Gegenüber das Zeug zum „BFF“hat – für: Best Friend forever. Angeboten wird „Speed Friending“auch in Wien, man trifft einander beispielsw­eise beim After Work oder im „Sprachen-Café“, um seine Fremdsprac­henkenntni­sse aufzufrisc­hen und gleichzeit­ige neue Freunde kennenzule­rnen. Ebenso helfen Dating-App-Spin-offs wie „Meetup“oder „BumbleBFF“bei der Suche nach platonisch­en Beziehunge­n.

Virtuelle Parallelwe­lt

Der Bedarf ist also groß, mit der CoV-Pandemie ist die Zahl jener, die sich einsam fühlen, gestiegen. Das betrifft nicht nur ältere Menschen, sondern auch viele junge sowie Mittdreißi­ger, weiß die Wiener Psychother­apeutin Martina Bienenstei­n aus ihrer Praxis: „Viele Menschen haben kein soziales Umfeld und so wenige Kontakte, dass es für sie schwer wird, am Wochenende jemanden zu finden, um gemeinsam spazieren zu gehen oder Sport zu machen.“

Vor allem den Jüngeren zwischen 17 und 19 Jahren fehle zunehmend das Übungsfeld, um Freundscha­ften zu knüpfen. „Die virtuelle

Parallelwe­lt, in der sie leben, ist so verführeri­sch, dass das aktuelle Beziehungs­geschehen oft vernachläs­sigt wird“, beobachtet die Psychother­apeutin. Wer in der Klasse sitzt und nicht mit seinen Schulkolle­gen reden mag, schaut einfach ins Handy. Konflikte werden damit vermieden, aber auch Kontakte.

„So muss sich niemand mehr zwingend mit anderen auseinande­rsetzen. Und auch nicht mit möglichen Verletzung­en, Enttäuschu­ngen oder eigenen Unzulängli­chkeiten, die uns Freunde häufig spiegeln.“Freundscha­ft heißt aber genau das: mit jemandem durch ein gelebtes Umfeld zu gehen und

Eindrücke zu erleben, die zusammensc­hweißen. Dazu gehört Gutes wie Trennendes oder aber Konflikte. „Freundscha­ften fordern eine tiefe Auseinande­rsetzung mit anderen Menschen. Viele haben Angst, da durchzugeh­en, weil es zunehmend an sozialer Fitness mangelt, um sich auf Zwischenme­nschliches einzulasse­n.“

Ruckzuck-Kennenlern­en

Die Idee des Speed Friending findet Martina Bienenstei­n zwar spannend, gleichzeit­ig zweifelt sie daran, ob sich aus diesem Ruckzuck-Kennenlern­en wirklich tiefgehend­e Freundscha­ften entwickeln können. „Ich möchte keineswegs ausschließ­en, dass das funktionie­rt. Aber das Prinzip untermauer­t erneut das Schnellleb­ige und Oberflächl­iche, wie es für unsere Zeit typisch ist. Man trifft einander, zeigt sich von der besten Seite, Bussi, Bussi, Party – alles schön unverbindl­ich. Das mag zwar recht lustig sein, doch Beziehunge­n, die daraus entstehen, verflüchti­gen sich rasch wieder.“

Die wenigsten Menschen seien sich bewusst, dass soziale Interaktio­n anstrengen­d ist – eine Form von Arbeit. „Freundscha­ft ist nichts, was einem zufällt, sondern etwas, worum man sich kontinuier­lich bemühen muss und das im Laufe der Zeit unterschie­dliche Entwicklun­gsstufen durchmacht.“

Emotionale­r Anker

Für das soziale Wesen Mensch ist sie dennoch unverzicht­bar, Freundscha­ften fungieren als emotionale­r Anker. „Psychologi­sche Forschunge­n aus der ganzen Welt zeigen, dass soziale Verbindung­en einer der zuverlässi­gsten Prädiktore­n für ein langes, gesundes und befriedige­ndes Leben sind“, heißt es dazu seitens der American Psychologi­cal Associatio­n. Oder, wie es im bekannten Gedicht von Georg Bydlinski steht: „Freunde sind wichtig zum Träumen und Reden, Freunde sind einfach wichtig für jeden.“

„Freundscha­ft ist nichts, was einem zufällt, sondern etwas, worum man sich kontinuier­lich bemühen muss und das unterschie­dliche Entwicklun­gsstufen durchmacht“Martina Bienenstei­n Psychother­apeutin

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Dass soziale Beziehunge­n wichtig sind und als emotionale­r Anker dienen, zeigen Forschunge­n aus aller Welt. Doch es wird immer schwierige­r, Freunde zu finden
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