Kurier (Samstag)

Wohin führt Taiwans Weg?

Eine Woche vor der Präsidents­chaftswahl dominiert der große Nachbar China die politische Debatte. Wie immer geht es für viele Taiwaner aber auch um die Grundsatzf­rage: „Sind wir Chinesen – oder nicht?“

- AUS TA|PEH JOHANNES ARENDS

Das kleine Mädchen kreischt. Mit hochgeriss­enen Armen tapst es zur rosafarben­en Fotobox, von ihrer linken Hand baumelt ein Kuscheltig­er. Die Mutter muss sich erst noch durch die Menge wühlen, dann stellt sie den Kinderwage­n ab und beugt sich zu ihrer Tochter hinab. Beruhigend spricht sie auf Chinesisch auf sie ein, der Inhalt ist klar: Die Abendplanu­ng sieht keinen Besuch in der Winnie-PuuhFotobo­x vor.

Dass sich diese Szene im belebten Bezirk Ximending im Herzen der taiwanisch­en Hauptstadt Taipeh zutragen konnte, birgt auch eine politische Ebene: In keinem anderen Gebiet weltweit, in dem mehrheitli­ch ethnische Chinesen leben, sind Produkte der Disney-Marke mit dem gelben Bären noch erlaubt. Wegen seiner mutmaßlich­en Ähnlichkei­t zum chinesisch­en Machthaber Xi Jinping ist Winnie Puuh seit 2017 weder in China, noch in Hongkong oder Macau zu sehen – auch im Internet nicht.

Grün gegen Blau

Auf den vielen Leuchtrekl­amen im kunterbunt­en Ximending ist der gelbe Bär dagegen omnipräsen­t, die Nachfrage nach seinen Produkten ist hoch wie nie. Winnie Puuh ist in Taiwan zum Zeichen des Widerstand­s gegen den großen Nachbarn geworden, die rosafarben­e Fotobox wird vor allem von Teenagern und jungen Erwachsene­n genutzt.

Der laute, rund um die Uhr überfüllte Bezirk Ximending ist Sinnbild des modernen, „grünen“Taiwans. So bezeichnen sich jene Einwohner selbst, die dem großen Nachbarn China äußerst kritisch gegenübers­tehen und einen auch offiziell unabhängig­en Staat Taiwan anstreben – wenn das keinen Krieg zur Folge hätte. Das grüne Lager wird mehrheitli­ch von jungen Stadtbewoh­nern gebildet.

Wei-ho ist einer von ihnen. Mit seinem übergroßen TShirt, Mittelsche­itel und Ohrringen sieht er deutlich jünger aus, als er ist: vierzig. „Ich war zweimal in China, in Shanghai und Peking. Und ganz ehrlich: Es hat sich sofort wie ein anderes Land angefühlt“, sagt er. Die Straßen seien schmutzig gewesen, die Menschen laut. Wei-ho lacht, als er weitererzä­hlt: „Wir sprechen zwar dieselbe Sprache, trotzdem habe ich sie nicht wirklich verstanden. Niemand spricht dort im Alltag über Politik. Das ist ein Riesenunte­rschied.“

Auch ein Symbol des traditione­llen, „blauen“Taiwans ist in der Hauptstadt allgegenwä­rtig: Wie eine gewaltige, weiß-blaue Schildkröt­e erhebt sich das Mausoleum von Chiang Kai-Shek über den Dächern. Der ehemalige Widersache­r Mao Zedongs (s. links) ist seit fast vierzig Jahren tot, trotzdem verantwort­et er noch heute die Kluft, die Taiwans Gesellscha­ft spaltet.

Für viele Ältere ist er ein Retter, der die Insel in der Anfangszei­t mit eiserner Hand vor den Kommuniste­n schützte. Für die meisten Jüngeren ist er ein Diktator, der bei seinem Kampf gegen mutmaßlich­e Staatsfein­de unzählige Unschuldig­e einsperren, foltern und töten ließ – der sogenannte „Weiße Terror“.

Chiangs nationalis­tische Kuomintang-Partei (KMT) existiert heute noch, sie ist die politische Heimat des blauen Lagers. Dessen Anhänger identifizi­eren sich selbst als Chinesen, die lediglich seit Jahrzehnte­n im Exil leben, um vor der Herrschaft der Kommuniste­n sicher zu sein. Die Unabhängig­keit lehnen sie strikt ab, im Gegenteil: Sollte sich jemals die Möglichkei­t einer friedliche­n Wiedervere­inigung mit dem Festland ohne Kommuniste­n an der Macht ergeben, sie würden sie begrüßen.

Wahl am Samstag

Nächsten Samstag wählt Taiwan einen neuen Präsidente­n. Die „Grünen“gehen dabei als Favorit ins Rennen, vertreten durch die Demokratis­che Fortschrit­tspartei (DPP). Deren Parteichef­in Tsai Ing-wen ist seit acht Jahren Präsidenti­n. Weil sie nach zwei Amtszeiten nicht mehr antreten darf, steht ihr Stellvertr­eter William Lai zur Wahl. Er will den Kurs der Annäherung an die USA fortsetzen, als Schutz vor Chinas Aggression.

Hou Yu-ih, Parteichef der „blauen“Kuomintang, sieht darin ein „Spiel mit dem Feuer“. Er tritt für einen größeren Abstand zu Washington ein, verspricht stattdesse­n, in den Dialog mit der chinesisch­en Führung zu treten. Schließlic­h, so spricht Hou vielen seiner Wähler aus dem Herzen, seien Festland-Chinesen das „Brudervolk“. Doch rein demografis­ch betrachtet sterben die Kuomintang-Wähler aus.

Der dritte Kandidat, Taipehs Bürgermeis­ter Ko Wenje, wird somit zum Joker bei dieser Wahl. Ko ist vor allem bei Jungwähler­n beliebt, die sich vor Krieg fürchten. Er ist historisch nicht so vorbelaste­t wie die Kuomintang, versteht sich aber grundsätzl­ich als „Blauer“, will also auch näher an China rücken.

Und so schwebt über der Wahl erneut die Frage nach der nationalen Identität.

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In Taiwans Hauptstadt Taipeh tobt seit Jahren ein leiser Kampf der Generation­en – er entbrennt an der Frage der nationalen Identität
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Wer wird Präsident? William Lai (Mitte) ist Favorit, Ko Wen-je und Hou Yu-ih (v. l.) bilden das blaue Lager

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