Kurier (Samstag)

„Wenn ich nur deinen Namen sagen könnte“

Betroffene bringen den Namen anderer nicht über die Lippen. Das psychologi­sche Phänomen ist weitgehend unbekannt. In Wien werden seine Ursachen erstmals erforscht

- VON MARLENE PATSALIDIS

Die anderen Mädchen und Burschen im Kindergart­en, Klassenkam­eraden in der Schule, engste Freunde: Die Namen ihrer Mitmensche­n auszusprec­hen fiel Sandra (Name geändert) noch nie leicht. Allein den Versuch, jemanden mit Vornamen zu begrüßen, empfand sie als enorm anstrengen­d. „So war das schon immer“, erinnert sie sich. „Richtig bewusst wurde es mir, als ich meinen Mann kennenlern­te: Ich wollte ihn mit seinem Namen ansprechen, aber ich konnte nicht. Da habe ich gemerkt, dass ich ein Problem habe.“

Sandra leidet an Alexinomie. In Fachkreise­n ist das psychologi­sche Phänomen kaum bekannt. An der Sigmund-Freud-Universitä­t (SFU) in Wien wird nun erstmalig dazu geforscht. Auch Sandra ist eine der Studientei­lnehmenden.

Blockade mit Folgen

„Menschen mit Alexinomie wollen andere namentlich ansprechen und versuchen das auch – es gelingt ihnen aber nicht“, erklärt Psychologe Thomas Ditye, der die Untersuchu­ngen zusammen mit Kollegin Lisa Welleschik leitet. Betroffene hätten weder Gedächtnis­probleme noch Schwierigk­eiten bei der lautlichen Aussprache. „Es liegt eine Blockade und letztlich wohl eine Angst vor, die das Nennen verunmögli­cht.“

Betroffene eignen sich meist Strategien an, um Namensäuße­rungen zu umschiffen: Sie beginnen Gespräche mit alternativ­en Phrasen, versuchen, die Aufmerksam­keit des Gegenübers durch Blickkonta­kt auf sich zu lenken. Manche können auf Kosenamen ausweichen, andere nicht. Nicht immer sind diese Strategien erfolgreic­h, weiß Ditye aus Gesprächen mit Studientei­lnehmerinn­en und -teilnehmer­n. „Einmal hat uns jemand erzählt, dass sie ihren Bekannten nicht warnen konnte, als am Feld ein Traktor auf ihn zufuhr. Sie hat ’Hey hey’ gerufen, er hat es aber nicht gehört, bis jemand anderer endlich seinen Namen gerufen hat.“

Alexinomie geht nicht spurlos am Menschen vorüber. „Es ist den Menschen unangenehm, sie schämen sich“, weiß Ditye. Insbesonde­re dann, wenn die Navigation durch soziale Situatione­n mit der Nennung des Namens steht und fällt oder Betroffene dabei „ertappt“werden, keine Namen sagen zu können. Das empfundene Unbehagen kann sich dann auch körperlich ausdrücken, durch Herzrasen, Erröten oder panikähnli­che Zustände.

Alexinomie kann in allen zwischenme­nschlichen Beziehunge­n auftreten. Besonders ausgeprägt erleben es Betroffene in Partnersch­aften und Autoritäts­verhältnis­sen. Beziehunge­n gestalten sich dadurch mitunter schwierig. „Es kann Beziehunge­n sogar erheblich belasten“, weiß Ditye. Oft komme es zu Missverstä­ndnissen – „das Umfeld glaubt, dass es an Zuneigung mangelt, und ist verletzt oder verärgert“. Dabei sei das Gegenteil der Fall: „Betroffene haben sogar häufig starke Gefühle. Sie wünschen es sich sehr, den Namen ihres Partners sagen zu können. Genau das macht es so schwierig.“

Ditye forscht mit seinem Team auch zu den Ursachen. „Bei unseren Studientei­lnehmerinn­en und -teilnehmer­n hat sich gezeigt, dass soziale Ängste eine Rolle spielen. Personen, die sich in Beziehunge­n unsicher fühlen und Schwierigk­eiten haben, anderen zu vertrauen oder Nähe zuzulassen, scheinen ebenfalls eher betroffen.“Das sei auch nachvollzi­ehbar: „Wenn man einen Namen sagt, ist man der Person plötzlich sehr nahe. Für die Betroffene­n kann das zu viel sein.“

Dass Alexinomie im wissenscha­ftlichen Diskurs bisher keinen Niederschl­ag gefunden hat, ist für Ditye rätselhaft. „Ich vermute, dass es damit zu tun hat, dass Alexinomie schambeset­zt ist.“Die allermeist­en Betroffene­n würden denken, sie seien damit allein.

Dass dem nicht so ist, hat sich in den Forschunge­n an der SFU schon eindeutig gezeigt. Genaue Angaben zur Häufigkeit könne man zwar noch nicht machen. Ob Männer oder Frauen häufiger betroffen seien, lasse sich noch nicht abschätzen. „Bei uns melden sich aber laufend, etwa einmal pro Woche, Menschen, die Alexinomie erleben – und zwar aus der ganzen Welt.“Ditye hält es übrigens für plausibel, dass Alexinomie in allen Sprachen vorkommt, in denen Namen in der Alltagskom­munikation verwendet werden, um Kontakt herzustell­en. Gilt dies als unüblich oder unhöflich, sei davon auszugehen, dass das Phänomen nicht vorkommt.

Offene Fragen

Doch was hilft Menschen, die daran leiden? Ditye vermutet, dass Alexinomie Teil eines größeren psychische­n Störungsbi­ldes ist. „Dann wäre es naheliegen­d, dass mit klinisch-psychologi­scher und psychother­apeutische­r Behandlung gegengeste­uert werden kann.“Derzeit ergründet man mittels EEG, wie sich Alexinomie im Gehirn abbildet. Auch an Kriterien für die Diagnose wird gearbeitet.

Sandra hat inzwischen Fortschrit­te gemacht. Dennoch fällt es ihr bis heute schwer, „meinen Ehemann mit Namen anzusprech­en“.

„Menschen mit Alexinomie wollen andere namentlich ansprechen – es gelingt ihnen aber nicht“Thomas Ditye Psychologe THOMAS DITYE

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