Kurier (Samstag)

Unheimlich­e Rechner und wankende Weltbilder

Benjamin Labatuts „Maniac“

- PATRICK DAX

Künstliche Intelligen­z. Der kleine Jancsi ist von der Maschine fasziniert. Sein Vater hat den Webstuhl, der mit Lochkarten programmie­rt wird, mit nach Hause gebracht. Der Sohn nimmt ihn auseinande­r und vergisst darüber zwei Tage lang aufs Essen.

Die vom französisc­hen Erfinder Joseph-Marie Jacquard Anfang des 19. Jahrhunder­ts erfundene Apparatur ist ein Vorläufer jener Rechenmasc­hine, mit der Jancsi Jahre später die optimale Detonation­shöhe der Atombombe berechnen wird, die 1945 über Nagasaki abgeworfen werden soll. Jancsi wird dann von Budapest in die USA emigriert sein, sich John von Neumann nennen und in Los Alamos im Rahmen des „Manhattan-Projekts“in den 1940er-Jahren die Baupläne für den Universalr­echner MANIAC (Mathematic­al Analyzer Numerical Integrator And Computer Model) entworfen haben. Mit dem Computer führt er auch erste Experiment­e mit selbstlern­enden Programmen durch. Sie bilden die Grundlage dessen, was wir heute Künstliche Intelligen­z nennen. Apokalypse und wissenscha­ftliche Kreativitä­t liegen eng beieinande­r.

Figuren und Fakten

Der Mathematik­er John von Neumann steht im Zentrum des jüngsten Buches des chilenisch­en Autors Benjamin Labatut. Wie bereits in „Das blinde Licht“(2020), schreibt er auch in „Maniac“historisch­e Figuren und Fakten fiktiv weiter. Die Grenzen zwischen Dichtung und Wahrheit verlaufen fließend. Die Personen, aus deren Perspektiv­e der Weg von Neumanns vom Bankiersso­hn aus Budapest zum mathematis­chen Gehirn des US-Atombomben­programms beschriebe­n wird, gab es wirklich. Sein Bruder Nicholas von Neumann, sein Freund, Eugene Wigner, der später den Physik-Nobelpreis erhalten wird, oder seine Frau, die Informatik­erin Klara Dan. Sie zeichnen ein nuancierte­s Bild des Wissenscha­fters zwischen Hybris und Erkenntnis­drang.

Maniac ist auch ein Zeitpanora­ma. Tradierte Weltbilder geraten durch Quantenmec­hanik und Relativitä­tstheorie aus den Fugen. Die Welt wird unberechen­barer. Der Physiker Paul Ehrenfest, dessen tragisches Ende am Beginn des Buches beschriebe­n wird, zerbricht auch daran. Den Abschluss des semi-fiktionale­n Romans bildet das Go-Match zwischen dem koreanisch­en Großmeiste­r Lee Sedol und dem Computerpr­ogramm AlphaGo im Jahr 2019. Die Maschine weist den Menschen bei dem komplexen asiatische­n Brettspiel in die Schranken.

Maniac ist ein auf vielen Ebenen großartige­r Roman, der historisch­e und wissenscha­ftliche Entwicklun­gen beleuchtet, keine einfachen Erklärunge­n liefert, aber viele Fragen aufwirft.

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Benjamin Labatut begibt sich auf die Spuren der KI
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KURIER-Wertung: ★★★★★
„Maniac“. Ü.: Thomas Brovot. Suhrkamp. 399 S. 26,80 € Benjamin Labatut: KURIER-Wertung: ★★★★★

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