Kurier (Samstag)

Kurzer Prozess für die „Selbstvers­tümmler“

Gedenktafe­l für Opfer der NS-Militärjus­tiz

- WOLFGANG KRALICEK

Gedenkkult­ur. Das Bürohaus in der Hohenstauf­engasse 3 wurde 1883/’84 von Otto Wagner als Zentrale für die Länderbank errichtet. Das heute als Amtsgebäud­e genutzte Objekt hinter der Freyung, in dem Vizekanzle­r Werner Kogler sein Büro hat, ist aber nicht nur architektu­rgeschicht­lich interessan­t.

In der NS-Zeit, von 1943 bis 1945, war hier ein Wehrmachts­gericht untergebra­cht. Deshalb wurde an der Fassade der Hohenstauf­engasse 3 gestern – in Anwesenhei­t von Kogler und Justizmini­sterin Alma Zadić – eine Gedenktafe­l enthüllt. „Die hier tätigen Richter“, steht da geschriebe­n, „verfolgten innerhalb des NSUnrechts­systems Deserteure, ‚Selbstvers­tümmler‘, ‚Wehrkraftz­ersetzer‘ sowie jene, die sie dabei unterstütz­ten.“

Nachdem es im Sommer 1943 in den Lazaretten der Wehrmacht zu einer auffällige­n Häufung von Arm- und Beinverlet­zungen gekommen war, sprachen die NS-Behörden bald von einer „Selbstvers­tümmler-Seuche“, die da grassiere. Tatsächlic­h haben damals viele versucht, sich durch Selbstverl­etzung dem Dienst für ein mörderisch­es Regime zu entziehen.

Die NS-Justiz ging dagegen mit voller Härte vor. In der Hohenstauf­engasse richtete sie ein Gericht ein („Abteilung 3, Feldkriegs­gericht Division 177“), das speziell solche Fälle von „Wehrkraftz­ersetzung“verfolgte. Die NS-Justiz setzte Spitzel ein und erzwang unter Folter Geständnis­se. Die „Selbstvers­tümmler“und deren Helferinne­n und Helfer wurden zum Tod oder zu Zwangsarbe­it in den sogenannte­n „Emslandlag­ern“verurteilt.

Dutzende Todesurtei­le

Die genaue Zahl der Todesurtei­le lässt sich nicht mehr ermitteln, weil nicht mehr alle Akten erhalten sind. „Es waren jedenfalls mehrere Dutzend“, sagt der Historiker Thomas Geldmacher, der sich mit dem von ihm mitgegründ­eten Personenko­mitee „Gerechtigk­eit für die Opfer der NS-Militärjus­tiz“seit 2008 um historisch­e Aufarbeitu­ng und politische Anerkennun­g von Deserteure­n und anderen Justizopfe­rn engagiert.

Auf die Initiative des Vereins geht unter anderem auch das 2014 errichtete Deserteurs­denkmal auf dem Ballhauspl­atz zurück. Die Gedenktafe­l in der Hohenstauf­engasse ist nicht die erste ihrer Art, und wenn es nach Geldmacher geht, wird es auch nicht die letzte bleiben. „Was die Sichtbarma­chung des NS-Netzwerks in Wien betrifft, gibt es noch viel zu tun.“

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... wurde am Freitag eine Gedenktafe­l für NS-Opfer enthüllt
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Auf der Fassade des Amtsgebäud­es in der Hohenstauf­engasse ...

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