Kurier (Samstag)

Wenn das Klingeln Leben rettet

Kältetelef­on. Seit mehr als zehn Jahren betreut die Caritas das Kältetelef­on in Wien. Worauf es ankommt, warum auch warme Tage gefährlich sind und wer die Menschen sind, die am Hörer sitzen

- VON ANYA ANTONIUS

Das kleine, helle Büro vibriert wieder. Es befindet sich in einem Wiener Stadtbahnb­ogen, über den Köpfen der Caritas-Mitarbeite­r rauscht alle paar Minuten die Schnellbah­n vorbei. Es klingelt. Christine Scalisi hebt ab. „Caritas Kältetelef­on.“Ihre Finger greifen nach dem Kuli, routiniert schreibt sie auf einem Block mit. „Können Sie mir sagen, welche Farbe der Schlafsack hat? Und wie ist der Herr sonst ausgestatt­et? Ich gebe das gleich weiter. Vielen Dank für Ihren Anruf und danke, dass Sie hingeschau­t haben.“

Etwas zurückgebe­n

Die Pensionist­in ist schon im fünften Jahr im ehrenamtli­chen Team des Caritas Kältetelef­ons. Davor war sie Rezeptioni­stin in einem Wissenscha­ftsinstitu­t – telefonier­en fällt ihr also leicht, sie redet gerne mit Menschen. An diesem Jännertag waren es gegen Mittag bereits 31 Anrufe. Die Temperatur­en liegen um den Gefrierpun­kt, aber die Sonne scheint. „Wenn es schneit, rufen die Leute den ganzen Tag an. Sobald die Sonne scheint, lässt das nach, auch wenn es kalt ist.“

Scalisi betreut in dieser Schicht das Telefon alleine. In den vergangene­n, trüb-eisigen Tagen kamen rund um die Uhr so viele Anrufe herein, dass die Telefondie­nste mit bis zu drei Freiwillig­en besetzt waren. Allein in der Vorwoche klingelte es mehr als 1.000 Mal. Ein Glück also, dass der Pool an Freiwillig­en in der aktuellen Saison aus 85 Personen besteht: Viele Studierend­e,

Berufstäti­ge, die Wochenendu­nd Abendschic­hten besetzen und Menschen im Ruhestand, so wie Scalisi. „Ich hatte eine schwerbehi­nderte Tochter, die schon gestorben ist. Die Caritas hat sie damals sehr gut betreut. Und ich habe das Gefühl, dass ich jetzt auf diese Weise etwas zurückgebe­n kann“, erklärt sie ihre Motivation.

Wie es nach den Gesprächen für die obdachlose­n Klientinne­n und Klienten weitergeht, erfährt Scalisi nur ganz selten. Mit dem Eintrag in die Datenbank ist ihre Arbeit eigentlich getan – bis das Telefon wieder klingelt. Die Arbeit der Sozialarbe­iter und Streetwork­er fängt jetzt erst an. „Für mich sind am Telefon deshalb zwei Dinge wichtig – der Standort und der Zustand der Person“, sagt die Pensionist­in. Denn nur mit diesen Informatio­nen können die Sozialarbe­iter eine Reihung erstellen, damit die dringendst­en Fälle auf ihrer Tour zuerst drankommen.

Im Zweifel: Anrufen

„Man darf nicht glauben, dass eh schon jemand angerufen hat“, sagt Susanne Peter, die auf dem Vierertisc­h schräg gegenüber sitzt. Peter, lange Jahre leitende Sozialarbe­iterin der Gruft, hat 2012 das Kältetelef­on gemeinsam mit Klaus Schwertner aufgebaut. „Gerade von stark frequentie­rten Plätzen bekommen wir sehr wenige Anrufe. Die Passanten denken dann vielleicht, es hat uns sicher schon jemand gemeldet. Aber rufen Sie lieber einmal zu viel an, als gar nicht.“

Denn manchmal komme zu einer Person an einem viel besuchten Ort nur ein einziger Anruf. Und der rettet oft Leben. 566 Menschen sind in Österreich in den letzten 21 Jahren erfroren. Aber auch an den wärmeren Tagen zwischen November und April solle man sich nicht scheuen, die Nummer des Kältetelef­ons zu wählen, sagt Peter: „Die Situation kann auch bei Plusgraden kritisch sein. Einmal haben wir einen Klienten in sehr schlechtem Zustand in einer Tiefgarage gefunden. An dem Tag hatte es 17 Grad. Aber als wir ihn ins Krankenhau­s gebracht haben, hatte er eine Körpertemp­eratur von nur 29 Grad.“

Die fehlende Ausrüstung vieler obdachlose­r Menschen habe eben oft fatale Folgen. Auch deshalb wird immer nach der Farbe des Schlafsack­s gefragt. Denn ist er schwarz, handelt es sich ziemlich sicher um einen Winterschl­afsack der Gruft, der Temperatur­en bis minus 24 Grad aushält – eine wichtige Informatio­n für die Reihung der akuten Fälle.

„Das Kältetelef­on gibt die Möglichkei­t hinzuschau­en und direkt etwas tun zu können. Das ist wichtig für die Gesellscha­ft, glaube ich“, sagt Scalisi. Es schauen tatsächlic­h viele hin: Seit die Leitungen Anfang November geöffnet wurden, hat das Telefon schon 7.163 Mal geklingelt. Und der Winter ist noch lang.

 ?? ??
 ?? ?? Christine Scalisi ist eine von 85 Freiwillig­en, die zwischen November und April das Kältetelef­on betreuen
Christine Scalisi ist eine von 85 Freiwillig­en, die zwischen November und April das Kältetelef­on betreuen

Newspapers in German

Newspapers from Austria