Kurier (Samstag)

FABELHAFTE welt

- vea.kaiser@kurier.at Vea Kaiser

Jede Generation erzieht ihre Kinder anders. Der Goldstanda­rd heutzutage ist: bindungsor­ientierte Erziehung. Anstatt mit Vorschrift­en oder Strenge das Kind zu formen, soll man auf seine Bedürfniss­e eingehen. „Ich verstehe, dass du wütend bist“, hört man oft als elterliche Reaktion auf Sprössling­s Tobsuchtsa­nfall. Gefolgt von: „Auch ich bin mit dieser Situation unglücklic­h“, um die eigene Perspektiv­e einzubring­en, ehe ein Ausweg angeboten wird: „Lass uns kuscheln, dann wird’s besser.“Ich hab zwar noch nicht oft erlebt, dass ein Kind aufhört, an der Supermarkt­kassa mit den Fäusten auf den Boden zu trommeln, weil ihm anstelle des verwehrten Paw-Patrol-Zuckerlspe­nders ein Bussi offeriert wird, aber wertvoll ist liebende Geduld allemal.

Und dann erlebte ich nach dem Kinderturn­en den epischen Wutausbruc­h eines kleinen Mäderls. Bitzelnd klammerte es sich an die Sprossenwa­nd. Der Vater versuchte keuchend, Finger für Finger des Töchterche­ns

| zu lösen. Man merkte seine Wut über ihren Wutausbruc­h an der hervortret­enden Halsschlag­ader. Schließlic­h gellte der Schrei der Mutter durch den Turnsaal: „Hearst Peter, du Trottel, du musst mit ihr auf Augenhöhe reden, also beug dich runter und sag, dass du sie verstehst, Depperter.“

Vater Peter folgte und tatsächlic­h: Das Kind beruhigte sich. Mich befiel daraufhin die Vermutung, dass bindungsor­ientierte Erziehung vor allem dann funktionie­rt, wenn man des Kleinkinds in diesem Moment verspürte Verzweiflu­ng selbst auch empfindet. Das verbindet.

Als Bambino also vor der Kinderarzt­tür brüllte, sagte ich: „Ich verstehe, dass du keine Spritze willst. Ich möchte auf gar keinen Fall die nächste Einkommens­steuervors­chreibung bezahlen. Aber da müssen wir beide durch.“Und tatsächlic­h: Er hörte auf zu kreischen. Erziehungs­konzepte kommen und gehen. Ewig gültig bleibt: Geteiltes Leid ist halbes Leid.

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