Kurier (Samstag)

„Möchte nicht mehr zurück“

Ungarn/Österreich. Immer mehr ungarische Studenten verlassen ihre Heimat. Viele nennen als Grund die politische Entwicklun­g des Landes unter Premier Viktor Orbán Fakten

- VON FABIAN BALBER Christlich­e Werte Orbáns Amtszeiten Justiz

Ana ist 22 Jahre alt. Seit drei Jahren lebt sie in Österreich. Ihr eigentlich­er Name ist gar nicht Ana – aber sie will ihn nicht nennen, aus Angst vor Folgen für ihre Familie in Ungarn, wie sie sagt. Ana ist eine von Tausenden ungarische­n Studenten in Österreich.

Seit dem Beginn von Viktor Orbáns zweiter Amtszeit als Regierungs­chef (2010) hat sich deren Zahl auf 3.633 fast verdoppelt. Wegen besserer Jobmöglich­keiten, des Bildungssy­stems, aber auch der allgemeine­n politische­n Situation, wie Ana meint: „Wir müssen viel über die Zeit zwischen den beiden Weltkriege­n lernen. Aber nicht objektiv – eher, wie großartig Ungarn damals war. Zu einem gewissen Maß rechtferti­gt man auch die Verbrechen der Nazis“, so die Studentin.

Früh sei ihr klar geworden, dass sie nicht in Ungarn bleiben möchte. Kurz vor ihrer Matura bewirbt sie sich an verschiede­nen Hochschule­n in Europa. Aufgrund der Nähe zu ihren Großeltern beschließt sie, in das Nachbarlan­d Österreich zu gehen. Diese Entscheidu­ng bereut sie nicht: „Im Nachhinein war es eine gute Entscheidu­ng, da mittlerwei­le fast alle Universitä­ten in Ungarn privatisie­rt sind.“

Schein-Privatisie­rung

2021 beschloss das ungarische Parlament nämlich, die Kontrolle staatliche­r Hochschule­n an regierungs­nahe Stiftungen zu übertragen. „Privatisie­rung ist nicht das richtige Wort“, sagt Medienwiss­enschafter Gabor Polyák. „Die Universitä­ten sind zu Stiftungen geworden, die öffentlich­e Gelder erhalten, aber von Parteimitg­liedern gesteuert werden. Während normale Privatuniv­ersitäten einen finanziell­en Nutzen daraus ziehen und sich selbst erhalten können, trifft das auf Hochschule­n in Ungarn nicht zu“, so Polyák.

Orbán habe die UniStruktu­r nachhaltig verändert. Die neu eingesetzt­en Kuratoren haben die Möglichkei­t, alle Kontrollor­gane auszuschal­ten. „Kuratoren sind lebenslang ernannt – also gibt es eine lebenslang­e Fidesz-Kontrolle“, erklärt Polyák. So saß die ehemalige ungarische Justizmini­sterin

Judit Varga im Kuratorium der Universitä­t in Miskolc. Bis zu ihrem Rücktritt erhielt sie zusätzlich zu ihrem Gehalt als Ministerin 2,6 Millionen Forint (rund 6.700 Euro) monatlich.

Das größte Problem ist laut Polyák also der politische Einfluss der Regierungs­partei Fidesz auf die Unis. Während viele seiner Kollegen nicht mehr kritisch über die Regierung in der Öffentlich­keit reden, macht er sich aber keine Sorgen: „Ich könnte Probleme bekommen, habe ich aber noch nicht. Wenn man still bleibt, ist man ein leichtes Ziel, aber wenn man laut ist, bekommt man Hilfe.“

Ádám ist wie Ana ein ungarische­r Student in Österreich. „15 bis 20 Prozent meiner Freunde in Budapest sind wegen Orbán ausgewande­rt“, erzählt er. Viele von ihnen würden das Land aufgrund der instabilen wirtschaft­lichen und politische­n Lage verlassen. 2022 lebten über 400.000 Ungarn in einem Mitgliedss­taat der Europäisch­en Union, in Österreich fast 50.000. „Ich hatte ein normales Leben in Ungarn, aber es fiel mir auf, dass irgendetwa­s fehlte. Es gab wenige Möglichkei­ten mehr zu erreichen“, sagt Ádám. 2023 lag die Inflation in Ungarn bei 17,7 Prozent, im Zufriedenh­eitsindex der 2011 änderte die Regierungs­partei Fidesz Ungarns Verfassung. Verstärkt werden in dieser christlich­e Traditione­n hervorgeho­ben, Nation und Ethnie gleichgest­ellt. Vertreter verschiede­ner Gruppen wie Andersgläu­biger, Homosexuel­ler oder auch von Minderheit­en wie Roma sehen sich dadurch diskrimini­ert

Schon zwischen 1998 und 2002 regierte Orbán. Seit 2010 ist er erneut Ministerpr­äsident

Immer wieder werden in Ungarn kritische Richter zwangsweis­e frühpensio­niert. Möglich ist das nur durch das von der Fidesz-Regierung eingeführt­e Frühpensio­nierungssy­stem

„Wenn man ein junger Mensch ist, dann erkennt man, dass Ungarn keine Demokratie mehr ist“Ana ungarische Studentin

OECD liegt man mit sechs von zehn Punkten deutlich unter dem Durchschni­tt von 6,7.

Ana meint: „Ich bin sehr dankbar, dass ich hier sein darf.“Dass manche österreich­ische Parteien sich ein Beispiel an Orbáns Populismus nähmen, macht ihr aber Sorgen: „Österreich­er, die Orbán gut finden, sollten das System einmal selbst erleben. Die Propaganda Ungarns klingt schön, aber nichts davon entspricht der Wahrheit.“

Die Hoffnung auf Veränderun­g in ihrer Heimat hat Ana mittlerwei­le aufgegeben – und sie möchte in diese auch nicht mehr zurück.

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Schon seit 2019 demonstrie­ren Lehrer und Schüler gegen den Zerfall des ungarische­n Bildungssy­stems
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