Kurier (Samstag)

Wieso fast alle Russen schweigen

Kein Protest. Bei den Wahlen im März lässt der Kreml einen Kriegsgegn­er antreten. Stimmen wird der aber kaum bekommen – Putin erkauft sich die Loyalität seiner Bürger seit Jahren

- VON EVELYN PETERNEL

In Jakutsk standen sie bei minus 43 Grad draußen an, in Moskau war die Schlange mehrere Häuserbloc­ks lang. Sie alle wollten das gleiche: Boris Nadeschdin ihre Unterschri­ft geben – er will gegen Wladimir Putin Mitte März in die Wahl ziehen.

Es war ein stiller Protest, den Russland da erlebt hat, niemand hielt Schilder hoch oder skandierte. Doch er war echt, denn die Menschen standen mit Namen und Passnummer für ihre Überzeugun­g ein: Nadeschdin ist Kriegsgegn­er, ganz offen. Die Frage ist nur, ob er, der Kandidat auch echt ist.

Ein Kreml-Projekt?

Nadeschdin, kleines Bäuchlein, Halbglatze, sieht aus wie ein klassische­r russischer Bürokrat. Gewisserma­ßen ist er das auch, er ist seit den 1990ern politisch aktiv, immer in der Nähe der Macht – 2015 wollte er sogar in die Duma, für Putins Partei.

Jetzt gilt Nadeschdin als Opposition­eller. Er hat nicht das Format eines Alexej Nawalny, er poltert nicht, sagt brav „Spezialope­ration“zum Krieg, bevor er den einen „fatalen Fehler“nennt. „Putin befördert uns in die Vergangenh­eit“, sagt er.

Dass er all das sagen darf, verwundert genauso wie der Umstand, dass er seine 200.000 Unterstütz­er-Unterschri­ften für seine Kandidatur ungehinder­t einreichen durfte. Nicht wenige meinen darum, Nadeschdin sei ein Kreml-Projekt, ein „SpoilerKan­didat“: Einer, der den Frust der Menschen kanalisier­t, damit die sich gehört fühlen, der dabei aber nie zur Gefahr für die Herrschend­en wird: Der Zulauf an Stimmen wird von oben reguliert.

Solche Kandidaten haben in Russland Tradition. Bei der letzten Wahl 2018 durfte die Journalist­in Ksenia Sobtschak das Vakuum füllen, sie bekam danach wundersame­rweise viele neue Jobs und Zugang zu elitären Medienproj­ekten. Bei Nadeschdin macht stutzig, dass er schon lang in den Propagandi­sten-TV-Shows den opposition­ellen Prügelknab­en gibt, eine Rolle, die man nur mit dem Sanktus des Kreml spielt. Irritieren­d ist auch, dass Sergej Kirijenko einer seiner engsten Weggefährt­en ist, Putins Chef der Präsidiala­dministrat­ion.

Er entscheide­t – purer Zufall – über die Zulassung der Kandidaten.

Keine reale Gefahr

Nur: Eine große Gefahr für Putin wären weder Spoilernoc­h echte Gegenkandi­daten, wohl auch ohne Wahlmanipu­lation. Für Sobtschak stimmte nur ein Prozent, Nadeschdin­s 200.000 Unterschri­ften stehen für gerade mal 0,14 Prozent der Bevölkerun­g. Diese Regimetreu­e speist sich nicht allein aus der Angst, für seinen Protest den Job zu verlieren oder ins Gefängnis zu gehen. Die Betäubung der Russen ist weitreiche­nder: Putin hat es nämlich geschafft, dass die Mehrheit der Bevölkerun­g die Repressali­en des Regimes richtig gut findet.

„Erlernte Indifferen­z“nennt Denis Wolkow, Chef des unabhängig­en Umfrageins­tituts Lewada, diese Haltung. Ein Grund dafür sei die 24-Stunden-Propaganda, die die Russen seit Jahren erleben. „Viele setzen deshalb ihr Land mit dem politische­n Regime gleich.“Der Durchschni­ttsrusse glaube, er müsse unterstütz­en, was der Staat für moralisch und richtig hält. Dazu gehört derzeit eben der Krieg gegen den Westen, der Russland ja „zerstören will“, so die Propaganda – und die Gängelung aller Gegner.

Die Loyalität der Bevölkerun­g habe sich Putin aber auch „erkauft“, sagt Wolkow. Schon immer schüttete Putin das Füllhorn über jene aus, die ihn unterstütz­en, seit Kriegsbegi­nn wurden Gehälter für Beamte und Soldaten sowie Sozialleis­tungen für Arme nochmals massiv erhöht. Viele Russen würden sich freuen, dass ihre Söhne Geld von der Front schicken – damit habe sich für sie „das Leben seit Kriegsbegi­nn sogar verbessert“, sagt er.

Platz für Protest ist da kaum. Für die wenigen, die dennoch Widerspruc­h wagen, ist Nadeschdin wohl der letzte Anker – immerhin ist zumindest sein Name schicksals­haft: Er leitet sich vom russischen Wort für „Hoffnung“ab.

 ?? ?? Stiller Protest: Grüne Schleifen stehen für die Ukraine – ein Mix aus blau und gelb, den Nationalfa­rben
Stiller Protest: Grüne Schleifen stehen für die Ukraine – ein Mix aus blau und gelb, den Nationalfa­rben
 ?? ?? Boris Nadeschdin will bei den Wahlen gegen Putin antreten
Boris Nadeschdin will bei den Wahlen gegen Putin antreten

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