„Gefahr eines faulen Friedens in der Ukraine“
Ukraine/Gaza. Eine Blaupause, Kriege zu beenden, gibt es nicht. Ein Blick in die Geschichte aber lohnt sich, meint Historiker Jörn Leonhard, um zu wissen, ob Gaza und Ukraine auf baldige Waffenruhe hoffen können
Irgendwann werden auch die Kriege in der Ukraine und in Gaza enden. Aber wie und wann? In die Kristallkugel kann auch der deutsche Historiker Jörn Leonhard nicht schauen. Doch sein Blick zurück auf vergangene Kriege erlaubt Rückschlüsse, welche Chancen die Ukraine und Gaza derzeit auf Frieden haben.
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KURIER: Was sind die besten Voraussetzungen für ein Ende eines Krieges?
Jörn Leonhard: Symmetrie zwischen den Kriegsparteien stellt einen wichtigen Faktor dar. Damit meine ich, dass sich irgendwann auf beiden Seiten die Einsicht einstellt, dass man auf dem Schlachtfeld militärisch nichts mehr zu erwarten hat. Ein zweiter Faktor sind glaubwürdige Vermittler. Sie brauchen ein robustes Mandat, müssen also in der Lage sein, die Bedingungen eines Waffenstillstandes vor Ort durchzusetzen. Dazu gehört aber auch, in einer Krisenregion langfristig engagiert zu bleiben – wie etwa die Vereinigten Staaten in Nachkriegseuropa.
Wenn eine Seite die Existenz des Gegners infrage stellt – können da überhaupt Verhandlungen beginnen?
Solange eine Seite glaubt, militärisch noch politische Ziele zu erreichen – vielleicht nicht mehr ein klassischer Sieg, sondern ein relativer politischer Gewinn zur Wahrung des eigenen Gesichts –, so lange spricht viel dafür, dass der Krieg weitergeht.
Das wissen wir aus dem Ersten Weltkrieg, aus dem Zweiten Weltkrieg, aus dem Koreakrieg, dem Vietnamkrieg.
Was, wenn sich die Ukraine nicht mehr in der Lage sieht, den Krieg fortzuführen?
Das könnte zu einseitigen Konzessionen und katastrophalen Konsequenzen führen. In den 1930er-Jahren setzten Großbritannien und Frankreich gegenüber der nationalsozialistischen Aggressionspolitik lange Zeit auf Zugeständnisse. Es gab also einseitige Konzessionen gegenüber einem Gegner, der letztlich zu keinem Frieden bereit war. Diese Gefahr eines „faulen Friedens“sehe ich auch im Ukrainekrieg. Eine Abtretung von Gebieten im Gegenzug für unsichere Friedensgarantien würde aus meiner Sicht die russische Aggression eher bestärken. Historisch gibt es viele Beispiele, in denen einseitig erzwungene Konzessionen dem Gegner signalisierten, dass er weitergehen kann – was den Krieg eher befeuerte.
Wie etwa im Verlauf der Punischen Kriege?
Die Karthager machten ein Zugeständnis nach dem anderen, immer in der Hoffnung, den Frieden mit Rom zu stabilisieren. Aber am Ende schwächte ihre Verteidigungsfähigkeit sie so sehr, dass sie sich nicht mehr gegen die völlige Vernichtung durch Rom wehren konnten.
Könnte man da eine Analogie ziehen zur momentanen Situation?
Jedenfalls geht von diesen historischen Beispielen die Warnung vor einseitigen weitreichenden Konzessionen aus. Würde das nicht einen zum ultimativen Handeln entschlossenen Akteur wie Putin eher motivieren, seine Anstrengungen zu steigern, um doch noch einen Siegfrieden zu erreichen? Also nicht bei der Krim und der Ostukraine stehen zu bleiben? Die Logik dahinter könnte lauten: Wenn ich diese Gebiete bekommen kann, und der Westen offensichtlich nicht mehr bereit ist, die Ukraine weiter zu unterstützen, warum sollte ich die Ukraine dann nicht komplett unterwerfen? Es gibt nicht nur die Asymmetrie der Waffensysteme oder der Ressourcen, sondern ebenso in der Bereitschaft zu glaubwürdigen Konzessionen.
Sind beim Gazakrieg beide Seiten bereit für Konzessionen?
Hier ist die Ausgangssituation eine andere als in der Ukraine. Die USA können noch begrenzt als Vermittler mit langer historischer Erfahrung
gegenüber Israel auftreten. Mit Saudi-Arabien, Ägypten und Katar existieren auch mögliche Vermittler gegenüber den Palästinensern. Daraus ergeben sich Anknüpfungspunkte, was temporäre Feuerpausen und der Austausch von Geiseln beweisen.
Österreich bringt sich gerne als möglicher Vermittler ins Spiel. Aber ohne ein robustes Mandat kommt das wohl nicht infrage?
Im Übergang vom Krieg zum Frieden braucht man unterschiedliche Kategorien von Akteuren, solche mit einem robusten Mandat und solche, die über besondere Erfahrungen mit diplomatischer Kommunikation und neutralen Orten verfügen. Das trifft traditionell auf Österreich und die Schweiz zu. Aber zur konkreten Umsetzung eines Waffenstillstands vor Ort braucht es andere Strukturen. Weder die Europäer noch die UNO könnten das zurzeit. Sie würden wichtig sein, wenn es um langfristige Perspektiven geht, einen Wiederauf bauplan etwa.
Sie sagen, dass „Frieden nicht unbedingt beginnt, wenn der akute Krieg endet“.
Frieden ist für uns heute viel mehr als die bloße Abwesenheit militärischer Gewalt, eine klassische Definition, die in früheren Epochen wie der Antike oder der frühen Neuzeit galt. Aber heute verbinden wir mit Frieden Vorstellungen von Gerechtigkeit und dem Anspruch, Kriegsverbrechen zu verfolgen und damit das Leid der Opfer anzuerkennen. Deshalb braucht man für diese Art von Friedensgestaltung einen sehr langen Atem. Wir alle wünschen uns die eine Konferenz, an deren Ende ein Dokument unterschrieben wird, und dann soll es gut sein. Aber Frieden ist kein Moment, sondern ein sehr langer Prozess.
Gibt es ein historisches Beispiel für eine geglückte Beendigung eines Krieges?
Der Wiener Kongress ist kein perfektes Beispiel. Aber er hat doch einige Probleme gelöst und die Friedensmacher verhinderten mit Blick auf Frankreich, was die Friedensordnung nach dem Ersten Weltkrieg so sehr belastet hat, nämlich die Demütigung des Gegners und die moralische Aufladung der Schuld. Metternich argumentierte, dass man keinen Krieg gegen Frankreich, sondern gegen einen tyrannischen Usurpator namens Napoleon geführt habe. Er verstand, dass man Frankreich schnell wieder integrieren müsste, um eine langfristige Destabilisierung zu verhindern. Zudem funktionierte 1814/’15 die Vertrauensbildung durch Kommunikation, durch informelle Kontakte, durch Geselligkeit. Das berühmte Wort „Der Kongress tanzt“ist insofern gar nicht falsch, weil es über Wochen und Monate Gelegenheiten schuf, sich kennenzulernen und persönliches Vertrauen aufzubauen.