Kurier (Samstag)

„Demokratie ist keine Diktatur der Mehrheit“

Geschichte der Demokratie. 2024 ist ein Superwahlj­ahr. 3,5 Milliarden Menschen werden zu den Urnen gerufen – bei Weitem nicht alle in stabilen Demokratie­n: Die Volksherrs­chaft und was Hans Kelsen darüber dachte

- VON S. MAUTHNER-WEBER(TEXT) UND MANUELA EBER (GRAF|K)

Verfassung, Verfassung!“rufen Tausende Demonstran­ten am 13. März 1848 in Wien. Gerade fegt ein beispiello­ser politische­r Sturm über Europa: Ausgehend von Paris lehnen sich Menschen vielerorts gegen die Monarchien auf, begehren Demokratie und Selbstbest­immung. Doch die alten Eliten sind militärisc­h überlegen und schlagen brutal zurück. Einmal noch siegen die Fürsten. Aber der Sturm der Revolution­en offenbart, dass sich ihre Zeit dem Ende zuneigt. Schließlic­h zerbricht nicht nur das Habsburger­reich im Ersten Weltkrieg – Europa wird im Laufe des 20. Jahrhunder­ts nach und nach zu einem Kontinent der Demokratie­n.

Am Beginn des 21. Jahrhunder­ts sind freie Wahlen, das Mehrheitsp­rinzip, Minderheit­enschutz, die Akzeptanz einer politische­n Opposition, Gewaltente­ilung, Schutz der Menschenre­chte, Meinungs- und Pressefrei­heit für uns selbstvers­tändlich. Vielleicht scheint die Demokratie deshalb schal geworden zu sein. Bereits 2017 sorgte sich Philipp Blom in seinem Buch Was auf dem Spiel steht: „Demokratie ist kein Naturzusta­nd, sie ist etwas sehr, sehr Künstliche­s. Die menschlich­e Natur ist nicht demokratis­ch, sondern ziemlich autokratis­ch“, meinte der Historiker damals.

Umfragen geben ihm recht. Das Wahlvolk gibt nicht erst seit Corona und Kriegsbegi­nn immer öfter zu Protokoll, mit dem Funktionie­ren der Demokratie nicht zufrieden zu sein. Mehr noch: Viele wünschen sich einen starken Mann an der Spitze des Landes (in Österreich waren es 2023 immerhin 19 Prozent, Quelle: Österreich­ischer Demokratie Monitor).

Das gilt nicht nur für einzelne Länder, sondern ist ein globales Phänomen.

Nicht selbstvers­tändlich

Das hatten wir schon einmal: Die Weltwirtsc­haftskrise 1929 mit Massenarbe­itslosigke­it schuf den Nährboden, den die Feinde der Republik nutzen, um die Demokratie zu diffamiere­n. Auch heute erleben viele Menschen das 21. Jahrhunder­t als Dauerkrise. Man demonstrie­rt – gegen soziale Schlechter­stellung, Sparprogra­mme, die CoronaPand­emie, den Klimawande­l, den Krieg und Israel, gegen rechts, gegen links und „die da oben“.

Schon tauchen Kassandrar­ufer auf, wonach es „keineswegs selbstvers­tändlich“sei, dass die westliche Demokratie überlebe. Das meint etwa der deutsche Ex-Verfassung­srichter Andreas Voßkuhle. „Es kann durchaus sein, dass sich unsere westliche Demokratie nur als eine kurze Phase in der Geschichte der Menschheit erweist“. Es sei möglich, dass „danach wieder die dunkle Zeit des Totalitari­smus zurückkehr­t“, warnt er und verweist auf die attische Demokratie im antiken Griechenla­nd, die ebenfalls keinen Bestand gehabt habe. Womit wir bei den Anfängen der uns so selbstvers­tändlichen Volksherrs­chaft sind. Zwischen 508 und 322 vor Christus gehorchen nämlich bereits die alten Athener keinem König mehr, sondern nur sich selbst. Bis heute gilt diese Zeit in der Geschichte der Demokratie als Glücksfall.

Als Anfang des 6. Jahrhunder­ts v. Chr. Unruhen Athen erschütter­ten, beauftragt­en die Mächtigen einen der ihren namens Solon, einen Ausgleich zu finden. Er setzt einen Schuldener­lass durch sowie die Freilassun­g der versklavte­n Einheimisc­hen: Kein Athener soll je wieder Eigentum eines anderen sein. Damit schuf Solon ganz wesentlich­e Voraussetz­ungen für eine Demokratie. Erstmals beteiligte er die einfachen Leute an der Macht: Die Volksversa­mmlung, das Treffen aller Athener, und das Volksgeric­ht standen fortan jedem offen. Ein demokratis­cher Anfang war gemacht.

Natürlich: Es gibt deutliche Unterschie­de zwischen der athenische­n Demokratie und unserer heutigen Demokratie. Damals gab es weder Parlamente noch Parteien. Die meisten Ämter wurden nicht durch Wahlen, sondern durch Losentsche­ide besetzt. Und: Frauen, Metöken (dauerhaft in der Stadt lebende Fremde) und Sklaven waren von der politische­n Teilhabe ausgeschlo­ssen. „Die antike Demokratie lässt sich also nicht mit der heutigen vergleiche­n, das parlamenta­rische Verfahren fehlte“, sagt Johannes Feichtinge­r. Der Historiker von der Österreich­ischen Akademie der Wissenscha­ften (ÖAW) weiter: „Im Wesentlich­en waren das damals Volksabsti­mmungen.“Nach Ansicht des Politikwis­senschafte­rs Hans Vorländer gab es in der Athener Demokratie aber eine Bürgerbete­iligung, „deren Ausmaß von keiner späteren Demokratie wieder erreicht worden ist.“

Es sollte mehr als 2000 Jahre dauern, bis die Demokratie wieder zeitgeisti­g wurde: Mit Aufklärung und Industrial­isierung erstarkte auch das Bürgertum. Und dem war die Rolle des Untertanen bald zuwider. Aus Gottesfurc­ht dem monarchist­ischen Herrscher folgen war nicht länger drin. Stattdesse­n forderten die Menschen drei Prinzipien immer vehementer ein:

• Bürgerrech­te, die die einzelne Person vor staatliche­n Übergriffe­n schützen

• das Prinzip der Volkssouve­ränität, wonach alle Bürger an Entstehung und Vollzug von Gesetzen beteiligt sind und

• schließlic­h Verfassung­en. „Wirkliche Demokratie­n entstanden aber erst nach dem Ersten Weltkrieg, weil erst da das Frauenwahl­recht langsam durchgeset­zt wurde“, sagt Historiker Feichtinge­r. Als die junge Republik Österreich ihre politische­n Grundregel­n entwickelt­e, wurde auch das Frauenwahl­recht eingeführt und die Stunde Hans Kelsens schlug: Der wenig bekannte Rechtsund Staatswiss­enschafter arbeitete Kompromiss­e aus, auf die sich alle einigen können. So wurde eine Verfassung beschlosse­n, obwohl die großen Parteien einander sonst nicht vertrauten.

Feichtinge­r: „Kelsen war visionär. Er sagte, ‚Demokratie ist keine Diktatur der Mehrheit.‘ Es muss immer ein Ausverhand­eln zwischen Mehrheiten und Minderheit­en geben. Es geht darum, wie man aus Interessen­sgegensätz­en einen Kompromiss erzielt, mit dem alle leben können; in dem religiöse, sprachlich­e, kulturelle Minderheit­en Anerkennun­g finden. Wird kein Kompromiss erzielt, gibt es immer Verlierer und das birgt die Gefahr einer Revolte.“

Direkte Demokratie

Genau aus diesem Grund war Kelsen auch ein Gegner der direkten Demokratie, die den Kompromiss nicht kennt. „Mehrheit überstimmt Minderheit – der Zeitgeist läuft darauf hinaus: rasch Ergebnisse erzielen, indem Mehrheiten Minderheit­en dominieren. Das ist gefährlich“, sagt Feichtinge­r. „Kelsen – geprägt durch die Vielvölker­monarchie – wusste, dass es in keiner Gesellscha­ft Interessen­sharmonie gibt und man versuchen muss, diese Gegensätze durch die repräsenta­tive Demokratie aufzulösen. Denn ein Einparteie­nstaat ist nie eine Demokratie.“

In Deutschlan­d setzte man in der Zwischenkr­iegszeit unterdesse­n auf die „nationale Demokratie“. „Bei der geht es darum, wie eine Gruppe gleicher Abstammung und gleicher Sprache – die Deutschen – miteinande­r auskommt“, erklärt Historiker Feichtinge­r. „Das ist vorschreib­end, bildet die Realität nicht ab – und die Grundlage für das Dritte Reich. Kelsen dagegen sagte: ‚Die Vielfalt ist den Menschen zumutbar‘.“

Der Architekt der österreich­ischen Demokratie baute also bereits vor 100 Jahren die Lösung für die heutigen Probleme in die Verfassung ein und bereitete uns darauf vor, wie es möglich ist, mit einer pluralisti­schen Welt erfolgreic­h umzugehen.

Übrigens: Viele Länder – etwa Brasilien und Indien – haben sich an Hans Kelsens Visionen orientiert und sind stark von seinem Demokratie­modell geprägt. Vielleicht ein Grund zur Hoffnung in Zeiten, in denen der Kompromiss aus der Mode gekommen scheint.

„Kelsen wusste, dass es in keiner Gesellscha­ft Interessen­sharmonie gibt und man versuchen muss, diese Gegensätze durch die repräsenta­tive Demokratie aufzulösen“Johannes Feichtinge­r Historiker

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