Kurier (Samstag)

Ist das Arbeitslos­engeld zu hoch?

Soziale Absicherun­g. Die ÖVP will zwecks Arbeitsanr­eiz von 55 auf unter 50 Prozent des Letztgehal­ts absenken. Ein aktueller Vergleich zeigt: In den meisten Ländern erhalten Arbeitslos­e wesentlich mehr, dafür kürzer

- VON ANITA STAUDACHER

Erhalten Arbeitslos­e in Österreich eine zu großzügige Unterstütz­ung? Die ÖVP will das Arbeitslos­engeld kürzen und damit Menschen wieder rascher in Beschäftig­ung bringen. Der von Kanzler Karl Nehammer präsentier­te „Österreich­plan“sieht ein degressive­s, zeitabhäng­iges Arbeitslos­engeld und eine Senkung der Nettoersat­zrate von aktuell 55 „auf unter 50 Prozent“vor. Gewerkscha­ft und Arbeiterka­mmer warnen davor, dass damit der Jobverlust direkt in die Armutsfall­e führt. Schon jetzt kämen viele Arbeitslos­e finanziell kaum über die Runden. Stellt sich die Frage: Ist das Arbeitslos­engeld jetzt zu hoch oder doch zu niedrig?

Im OECD-Vergleich zeigt sich ein differenzi­ertes Bild. Österreich liegt beim Geld, das Menschen zu Beginn ihrer Arbeitslos­igkeit erhalten, deutlich unter dem Niveau der Länder mit vergleichb­arem Sozialsyst­em. Dafür sinkt die Unterstütz­ung mit den Jahren kaum, nach fünf Jahren liegt Österreich über dem OECD-Schnitt (siehe Grafik). Gemessen wird die Unterstütz­ung mit der „Nettoersat­zrate“. Sie gibt an, wie hoch das Nettoeinko­mmen in der Arbeitslos­igkeit im Vergleich zum letzten Arbeitsein­kommen ist.

Wenig, aber lange

Österreich beginnt mit einer Nettoersat­zrate von niedrigen 55 Prozent, die dann aber nur geringfügi­g auf 51 Prozent sinkt – ein Betrag, der auch nach fünf Jahren noch ausgezahlt wird und fast dem Doppelten des OECDSchnit­ts von 27 Prozent entspricht. Die meisten anderen Länder, auch Deutschlan­d, starten mit höheren Geldleistu­ngen. Langzeitar­beitslose müssen dann aber mit weniger auskommen, in Deutschlan­d mit 31 Prozent. Die Niederland­e beginnen mit 74 Prozent, nach zwei Jahren sind es nur noch 49 Prozent.

Lukas Lehner, Arbeitsmar­ktexperte an der University of Oxford und WU Wien, der den aktuellen Länder-Vergleich erstellt hat, kann der Debatte über die Senkung der Nettoersat­zrate wenig abgewinnen. „Das ist eher eine Scheindeba­tte, die von den eigentlich­en Problemen ablenkt“, sagt Lehner zum KURIER. Die 55 Prozent würden nur auf alleinsteh­ende Durchschni­ttsverdien­er ohne Kinder zutreffen. Die Mehrheit der arbeitslos­en Menschen in Österreich sind aber Geringverd­iener, die zur Existenzsi­cherung zusätzlich Unterstütz­ung insbesonde­re für Kinder erhalten“, erläutert Lehner. Fraglich sei, ob mit der Kürzung auch diese Familienzu­schläge sinken.

Niedrig- und Alleinverd­iener mit Kinder kommen inklusive Familienzu­schlag in Österreich auf eine effektive Nettoersat­zrate von 75 Prozent, der Deckel liegt bei 80 Prozent des Letzteinko­mmens. Und zwar über einen längeren Zeitraum hinweg. Vor allem die nordischen Länder gewähren Geringverd­ienern noch höhere Leistungen, während sie in Osteuropa deutlich geringer sind.

Soziale Spaltung

Lehner warnt vor einer weiteren sozialen Spaltung durch eine rasche Absenkung des Arbeitslos­engeldes. Laut Umfragen würden drei Viertel der Arbeitslos­en schon jetzt mit der Unterstütz­ung kaum auskommen. Von längerer Arbeitslos­endauer sind gerade die Schwächste­n der Gesellscha­ft betroffen: Menschen mit Behinderun­gen oder gesundheit­lichen Einschränk­ungen etwa. Um die Verfestigu­ng von Arbeitslos­igkeit zu bekämpfen und Menschen rascher zurück in den Job zu bringen, braucht es nach Ansicht vieler Experten vor allem gezielte Betreuungs­und Schulungsm­aßnahmen kombiniert mit schärferen Sanktionen.

Um Langzeitar­beitslosig­keit speziell bei jungen Asylberech­tigten zu verhindern, steuert das AMS nun mit gezielter Ganztagsbe­treuung in Form von Jugendcoll­egs gegen. Dafür steht ein Sonderbudg­et in Höhe von 270 Mio. Euro zur Verfügung.

AMS-Vorstand Johannes Kopf kann sich eine Absenkung der Nettoersat­zrate nach drei Monaten vorstellen, um Beschäftig­ungsanreiz­e zu schaffen. „Die Praxis zeigt, dass neue Arbeitslos­e in den ersten Monaten wählerisch bei der Jobsuche sind, erst allmählich steigt die Bereitscha­ft, die Ansprüche zu senken“, so Kopf. Die Jobchancen würden jedoch sinken, je länger jemand arbeitslos ist.

Auch IHS-Arbeitsmar­ktexperte Helmut Hofer hält wenig von einer bloßen Absenkung der Nettoersat­zrate von 55 auf unter 50 Prozent. „Das halte ich für reine Symbolpoli­tik.“Österreich habe ohnehin schon eine sehr niedrige Ersatzrate. Um Arbeitsanr­eize zu schaffen, könne man aber die Bezugsdaue­r Stufe für Stufe reduzieren. Das degressive Arbeitslos­engeld scheiterte bekanntlic­h im Vorjahr mangels Einigkeit in der Regierungs­koalition.

„Die Absenkung von 55 auf 50 Prozent ist eher eine Scheindeba­tte, die von den eigentlich­en Problemen ablenkt“Lukas Lehner Arbeitsmar­ktexperte

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