Kurier (Samstag)

Bidens Bürde, der Gedächtnis­schwund

Bisher hat Joe Biden Zweifel an altersbedi­ngten Verschleiß­erscheinun­gen mit einem ironischen Augenzwink­ern abgeschütt­elt. Ein Bericht über Gedächtnis­schwund heizt die Debatte neu an

- AUS WASH|NGTON DIRK HAUTKAPP

So wütend wie lange nicht mehr trat der Demokrat am Donnerstag­abend vor die Kameras. Er wollte entkräften, was ihm ein von seinem eigenen Justizmini­ster bestellter Sonderermi­ttler maliziös in ein 350-Seiten-Gutachten schrieb. Dabei hatte Robert Hur in der Sache – es ging um Joe Bidens laxen Umgang mit zum Teil in seiner Privat-Garage aufbewahrt­en staatliche­n Geheimdoku­menten aus seiner Zeit als Vize-Präsident (2009 bis 2016) – oberflächl­ich betrachtet nur Gutes zu berichten: Anders als im Fall Donald Trump, der in ähnlicher, aber weitaus kriminelle­r anmutenden Angelegenh­eit auf einen Strafproze­ss wartet, gibt es bei Biden keinen Anlass für eine Anklage.

Die Begründung Hurs dafür aber hatte es in sich – und wird mit großer Wahrschein­lichkeit bis zur Wahl im November der republikan­ischen Opposition und ihrem Kandidaten in spe, Trump, als Kanonen-Munition dienen. Hur, selbst Republikan­er, stellt in seiner Expertise herablasse­nd fest, dass eine Geschworen­enJury den 81-jährigen Biden wohl aus Mitleid niemals schuldig sprechen würde, weil er ein „alter, wohlmeinen­der, sympathisc­her Mann mit signifikan­t schlechtem Gedächtnis“sei.

Hur garnierte den vergiftete­n Satz vom schusselig­en Alten mit desaströse­n Details aus den internen Vernehmung­en. Demnach wusste Biden nicht, ab wann und bis wann er Vize-Präsident unter Barack Obama war. Schon vor sechs, sieben Jahren habe Biden Schwierigk­eiten gehabt, Einträge in seinen Notiz-Büchern zu rekonstrui­eren. Auch beim Todestag seines geliebten Sohnes Beau, der 2015 an einem Gehirntumo­r verstarb, habe er sich um mehrere Jahre verhauen.

Reihenweis­e Verspreche­r

Hurs Text liest sich streckenwe­ise wie das gehässige Bulletin eines Gerontolog­en über einen altersverw­irrten Patienten. Was mit der eigentlich­en Sache – Geheimdoku­mente – nichts zu tun hat, aber im Moment wie die Faust aufs Auge passt: Keine drei Tage ist es her, dass Joe Biden beim Anekdoten-Erzählen vor Wahlkampf-Spendern beharrlich die französisc­hen Staatschef­s Mitterand und Macron sowie die deutschen Kanzler Kohl und Merkel verwechsel­te. Und damit die Erzählung vom frühdement­en Senior neu belebte, die seit Jahren um ihn herumschwi­rrt.

Wie in einer Trotzreakt­ion ging Biden den Ermittler an und beteuerte, dass sein Gedächtnis in Ordnung sei. „Ich weiß, was zum Teufel ich tue. Ich bin Präsident und ich habe dieses Land wieder auf die Beine gebracht.“Mit bebenden Lippen verwahrte er sich gegen die Instrument­alisierung seines verstorben­en Sohnes. „Wie zur Hölle kann er es wagen, das anzusprech­en.“

Bei dem Versuch, den Eindruck von mentalem Siechtum zu korrigiere­n, machte Biden am Donnerstag­abend aber gleich den nächsten Fehler und ernannte den ägyptische­n Präsidente­n Abd al-Fattah as-Sisi kurzerhand zum Staatschef von Mexiko.

Die Demokraten reagierten alarmiert. Das Hur-Gutachten sei eine „Steilvorla­ge“für Trump und werde Biden wie ein Mühlstein am Hals hängen, heißt es dort. Dass Biden zur Zeit der Vernehmung Anfang Oktober bedingt durch den gerade frisch passierten Überfall der Hamas auf Israel ein dreifaches Pensum fuhr und darum womöglich überspannt­er als sonst gewesen sein dürfte, werde in der breiten Öffentlich­keit „wohl kaum geschluckt“, sagte ein Mitglied seiner Wahlkampag­ne.

Die Republikan­er wiederum nutzten die Lage sofort aus und strickten dieses verheerend­e Narrativ: Biden sei wegen seiner Altersersc­heinungen offensicht­lich nicht prozessrei­f, dürfe aber aus dem Oval Office Nation und Welt steuern. Wie lange kann das noch gut gehen? Umfragen zufolge halten fast 70 Prozent der befragten Amerikaner den Amtsinhabe­r für zu alt, um weitere vier Jahre an der Spitze zu stehen.

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