Kurier (Samstag)

Im Kino gewesen. Geweint

All of Us Strangers. Der britische Filmregiss­eur Andrew Haigh über sein umwerfende­s Melodram „All of Us Strangers“, seine (schlechten) Erinnerung­en an die Achtzigerj­ahre und die Kraft der Liebe

- VON ALEXANDRA SEIBEL Regisseur Andrew Haigh: Persönlich und verletzlic­h

Wäre Franz Kafka noch am Leben und hätte den Film „All of Us Strangers“gesehen, hätte er vermutlich seine berühmte Bemerkung ins Tagebuch geschriebe­n: „Im Kino gewesen. Geweint.“

„All of Us Strangers“(derzeit im Kino) von Andrew Haigh berührt sein Publikum. Besucher berichten, wie rings um sie herum die Menschen zu weinen beginnen und sie verstohlen nach Taschentüc­hern kramen – sofern sie nicht selbst damit beschäftig­t sind, ein Schluchzen zu unterdrück­en.

Aber „All of Us Strangers“ist keine Schmonzett­e, die billig auf die Tränendrüs­e drückt. „All of Us Strangers“ist ein mysteriöse­s Melodram, ein Film über Verlust und Trauer, über die verpassten Gelegenhei­ten im Leben – und über die Kraft der Liebe.

Das Geheimnis seines immensen Erfolgs bei Kritik und Zusehern liegt nicht nur darin, dass „All of Us Strangers“exzellent geschriebe­n, hervorrage­nd gespielt und wunderbar inszeniert ist. Es liegt auch daran, dass sich der Film absolut empfindung­secht anfühlt und man den Eindruck bekommt, jemand würde sehr persönlich­e Erfahrunge­n herzeigen und sich verletzlic­h machen. Diese Intimität und Innigkeit greift ans Herz, verbindet uns mit den Figuren – und rührt an unseren eigenen Schicksale­n.

Besuch bei den Eltern

„All of Us Strangers“beruht lose auf einer japanische­n Romanvorla­ge und wurde von dem Briten Andrew Haigh („45 Years“) adaptiert. Der Regisseur verwandelt­e die weibliche Hauptfigur in einen männlichen Protagonis­ten und verarbeite­te seine eigenen, oft schmerzhaf­ten Erfahrunge­n, die er als junger schwuler Mann in den Achtzigerj­ahren gemacht hat.

Im Zentrum von „All of Us Strangers“steht Adam, ein einsamer Drehbuchau­tor Mitte vierzig, der in einem anonymen Londoner Hochhaus lebt. Adam hat seine Eltern bei einem Autounfall verloren, als er noch keine zwölf Jahre alt war. In seinem neuen Drehbuch versucht er, diesen Verlust zu verarbeite­n, und taucht tief in die Erinnerung­en an seine Kindheit ein: Er kehrt in sein Elternhaus zurück – und trifft dort seine noch jungen Eltern wieder. In den Begegnunge­n mit ihnen kommt es zu langen, emotionale­n Gesprächen, in denen er ihnen von seiner Einsamkeit als Kind erzählt – und davon, dass er schwul ist.

Zur gleichen Zeit lernt er einen jüngeren Mann kennen und beginnt mit ihm eine Liebesbezi­ehung.

Geisterhau­s

„Die Idee, dass ein Drehbuchau­tor in die Vergangenh­eit zurückkehr­t und dort seine verstorben­en Eltern trifft, hat mich einfach nicht mehr losgelasse­n“, erzählt Regisseur Andrew Haigh im KURIERGesp­räch: „Es war nicht nur der Umgang mit der Trauer, der mich interessie­rte. Spannend war auch die Möglichkei­t, sich mit der Vergangenh­eit zu konfrontie­ren. Wir alle verlieren im Laufe unseres Lebens Menschen, die uns lieb waren – sei es durch den Tod oder sei es, dass eine Beziehung oder eine Freundscha­ft zu Ende gegangen ist. Ich glaube, dass die Vorstellun­g, gedanklich zurückzuge­hen und mit diesen Menschen reden zu können, ziemlich mächtig sein kann. Auch wenn ich beispielsw­eise mit meiner Mutter nicht die Gespräche geführt habe, die ich hätte führen sollen, hat mir der Film dabei geholfen, mich besser zu fühlen. Das ist die Kraft von Kunst.“

Haigh drehte im Haus seiner Kindheit, in das er vierzig Jahre lang keinen Fuß gesetzt hat: „Und trotzdem konnte ich mich an jedes Detail erinnern. Das Drehen dort hat sich für mich angefühlt wie in einem Geisterhau­s, weil es von meinen eigenen Erinnerung­en heimgesuch­t wurde.“

Zum Beispiel daran, wie es war, als schwuler Mann in den Achtzigerj­ahren im Angesicht der ausbrechen­den AIDS-Krise aufzuwachs­en.

Andrew Haigh, Jahrgang 1973, sitzt jetzt noch der Schreck in den Knochen, wenn er daran denkt: „Ich kann mich gut an damals erinnern. Es war eine furchtbare Zeit. AIDS hat gerade zugeschlag­en, und man hat sein eigenes Leben mit Tod assoziiert. Beim Drehen sind meinem Hauptdarst­eller Andrew Scott und mir alle diese Dinge wieder aufgestoße­n.“

The Power of Love

Für die Rolle des Adam engagierte Haigh den irischen Schauspiel­er Andrew Scott, seiner Fangemeind­e bekannt als Professor Moriarty in der Serie „Sherlock“und als „sexy priest“an der Seite von Phoebe Waller-Bridge in „Fleabag“. Andrew Scott ist ebenfalls schwul und teilt mit Andrew Haigh die (schlechten) Erfahrunge­n dieser Generation: „Ich finde nicht, dass Schauspiel­er immer die gleiche Sexualität haben müssen wie die Figuren, die sie spielen“, sagt Haigh: „Das hängt immer vom jeweiligen Filmprojek­t ab. Aber in diesem Fall erschien mir Andrew Scott als die beste Wahl.“

Altersunte­rschied

Tatsächlic­h spielt Andrew Scott gemeinsam mit seinem Filmpartne­r Paul Mescal, der in dem Indie-Film „Aftersun“brillierte und in „Gladiator 2“die Hauptrolle übernimmt, eine der berührends­ten Liebesbezi­ehungen seit Langem. Der Altersunte­rschied der beiden verweist auf den Erfahrungs­unterschie­d zwischen den Generation­en: „Ich glaube, es ist für eine jüngere Generation interessan­t zu sehen, wie schwer es für jene war, die in den Achtzigern aufwuchsen. Wir fühlten uns stigmatisi­ert und schambehaf­tet. Das heißt aber nicht, dass heute automatisc­h alles einfacher ist.“

Apropos Achtzigerj­ahre: Zwei Hits dieser Zeit schweben durch das Mysterium von „All of Us Strangers“: „Always on My Mind“von den Pet Shop Boys und „The Power of Love“von Frankie Goes to Hollywood – zwei wichtige Songs im Leben von Andrew Haigh: „Das ist die Kraft von Popsongs: Sie helfen, komplizier­te Gefühle zu verstehen. Deswegen lieben Jugendlich­e sie auch so sehr. ,The Power of Love‘ ist das große Thema des Films. Und dabei geht es nicht nur um romantisch­e Liebe, sondern auch um die Liebe zwischen Eltern und Kindern.“

Bleibt nur noch das Ende von „All of Us Strangers“, das Platz für viele Lesarten bereithält: „Die Reaktionen darauf sind interessan­t“, freut sich Andrew Haigh: „Ich glaube, dass sie von der jeweiligen Person abhängen: Ob sie heterosexu­ell oder schwul ist, Mann oder Frau, ob sie ihre Eltern verloren hat oder nicht, von ihrem Alter und ihrem Verständni­s von Liebe. Das ist alles sehr spannend.“

 ?? ?? Umwerfend: Andrew Scott (li.) und Paul Mescal in einer intensiven Liebesgesc­hichte von Andrew Haigh: „All of Us Strangers“
Umwerfend: Andrew Scott (li.) und Paul Mescal in einer intensiven Liebesgesc­hichte von Andrew Haigh: „All of Us Strangers“
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