Kurier (Samstag)

Wer nicht sehen will

- VON EVELYN PETERNEL evelyn.peternel@kurier.at / Twitter: @evelyn.peternel

Alexej Nawalny wusste, dass es irgendwann so weit sein würde. Er wusste es, als er vor drei Jahren in das Flugzeug stieg, mit dem er sich Putin ausliefert­e. Er wusste es, als er Frau und

Kinder zum Abschied küsste, und er wusste es bei jedem Auftritt vor Gericht, als der russische Staatsappa­rat ihn von Mal zu Mal abgemagert­er vorführte: Irgendwann wird der Kreml wohl auch mich töten – so, wie er noch jeden Opponenten beseitigt hat.

Nawalny hat sich trotzdem ausgeliefe­rt. Um den Russen, um dem Westen eines zu beweisen: Der Mann, der im Kreml sitzt, der seinen Bürgern seit 24 Jahren erzählt, er sei der einzige Heilsbring­er, der große Weltenrett­er, ist nichts anderes als ein einfacher Kriminelle­r mit viel zu viel Macht. Nawalny hat in seinen Dokumentat­ionen Putins obszönen Reichtum bloßgestel­lt, hat seine gierigen Netzwerke enttarnt, die den Russen seit Jahrzehnte­n ihr Geld abpressen und das Land und seine Gesellscha­ft immer noch korrupter, kleptokrat­ischer und grausamer machen. Er hat bewiesen, dass Putins Weg mit politische­n Leichen gepflaster­t ist. Genau deswegen ist er jetzt selbst gestorben.

Nawalny war selbst ein Nationalis­t, aber einer, der sein Maß kannte. Er hat sich gegen Putins Krieg gestellt, noch vom Gefängnis aus, und das ist in Putins Gulags beinahe ein Ding der Unmöglichk­eit. Er hat den Russen und dem Westen klarmachen wollen, dass die Leichen, die Putin auf dem Schlachtfe­ld in der Ukraine hinterläss­t, ebenso politische

Opfer sind: Sie sterben für den monströsen Größenwahn eines alten Mannes, dessen Machthunge­r nicht gestillt werden kann.

Davor hat die Öffentlich­keit hierzuland­e schon lange die Augen abgewendet. Die westliche Politik scheint nach zwei Jahren Krieg dem Ermüdungsb­ruch nahe, und die Stimmen jener, die einen ebenso schnellen wie unfairen Frieden fordern, werden immer lauter. Der Kremlchef kann so über blauäugige Mittelsmän­ner wie Tucker Carlson seine zynische Botschaft in die Welt schicken: Wir wollen ja den Frieden, nur der Westen nicht. Wir sind die Guten.

Doch der Mann, der den Krieg begonnen hat, sitzt im Kreml. Und er ist auch der Einzige, der ihn beenden kann. Wenn die Massaker von Butscha, Irpin oder Mariupol nicht gereicht haben, um das zu verstehen, dann hoffentlic­h der Tod von Nawalny: Er starb einen Tod auf Raten, um der Welt zu zeigen, dass man mit dem Mann im Kreml keinen Deal schließen kann: Es wäre ein Pakt mit dem Teufel. Leider ist die Hoffnung, dass der müde Westen das jetzt versteht, gering. Weder die Hinrichtun­g von Boris Nemzow, Putins größtem Opponenten vor Nawalny, noch der Tod von Putins eigenem Geschöpf Jewgenij Prigoschin haben das Zerrbild Putins im Westen nachhaltig verändert. Auch das hat Nawalny immer gewusst – Angst hatte er dennoch keine. Man kann nur hoffen, dass dieser Mut wenigstens andere ansteckt.

Nemzow, Prigoschin, jetzt Nawalny: Wer Putin nach diesen Morden in Sachen Ukraine Glauben schenkt, agiert vorsätzlic­h blind

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