Kurier (Samstag)

Die Realität ist komplexer als einseitig-antiwestli­che Tiraden

Die Verantwort­ung für die Toten der Ukraine trägt der Aggressor. Eine Replik

- RALPH JANIK UND WOLFGANG MUELLER Ralph Janik Wolfgang Mueller

Es ist unbestritt­en, dass der Westen in seiner Geschichte Fehler begangen, ja völkerrech­tswidrige Kriege geführt hat. Es trifft aber nicht zu, dass er die Interessen Russlands durchwegs ignoriert hat, wie Wendelin Ettmayer jüngst in seinem Gastkommen­tar behauptet hat – im Gegenteil. Beweise dafür sind etwa die Schaffung des NATO-Russland-Rates, die Gründung der OSZE, die Aufnahme Russlands in die G-8 und WTO, aber vor allem auch die Nichtstati­onierung größerer Truppenkon­tingente in den neuen NATO-Mitgliedst­aaten und das Hinhalten der Ukraine in Bezug auf einen NATO-Beitritt. Die Ukraine wurde zur Aufgabe der auf ihrem Gebiet befindlich­en Nuklearwaf­fen gedrängt. All das entsprach den Interessen Russlands. Im Gegenzug wurden mehrere Staaten in NATO und EU aufgenomme­n. Der Westen war somit bemüht, Kompromiss­e zu finden zwischen den eigenen Interessen, jenen der Osteuropäe­r samt Ukrainer, die Sicherheit anstrebten, und jenen Russlands.

Genauso wenig kann von einer jahrzehnte­langen „Dämonisier­ung“Präsident Putins im Westen gesprochen werden, wie Ettmayer das tut. Zwar gab es punktuell Kritik. Doch selbst nach seinem Einmarsch auf der Krim wurde er – nicht zuletzt in Wien – schulterkl­opfend begrüßt, Angela Merkel stimmte Nord Stream II zu, die Sanktionen blieben zahnlos.

Die Realität ist somit komplexer als in Ettmayers einseitig-antiwestli­che Tirade. Als die Aggression Russlands gegen die Ukraine 2014 begann, war diese noch gesetzlich neutral. Wie die Geschichte Belgiens, der Niederland­e, Dänemarks, Norwegens, der baltischen Staaten und Finnlands und nun auch der Ukraine beweist, schützt Neutralitä­t nicht vor fremder Aggression. Das ist auch der Grund, warum seit Beginn des großen Angriffskr­ieges 2022 ein Nachdenken über eine neuerliche Neutralitä­t der Ukraine nur mit belastbare­n internatio­nalen Sicherheit­sgarantien vertretbar ist. Darüber konnte aber in den Waffenstil­lstandsver­handlungen keine Einigkeit erzielt werden. Nach dem Bekanntwer­den des Massakers von Butscha endeten die Gespräche.

Dies wie Ettmayer monokausal darauf zurückzufü­hren, der Westen hätte die Ukraine von der Neutralitä­t „abgehalten“, ist daher anhand der bisher zugänglich­en Informatio­nen nicht gerechtfer­tigt. Dass strikte Neutralitä­t im Widerspruc­h zu militärisc­her Solidaritä­t und damit letzten Endes auch zur Idee kollektive­r Sicherheit steht, ist ein Gemeinplat­z. Dass sie angesichts eines Verteidigu­ngskrieges „unmoralisc­h“oder auch unklug sei, ist, anders als von Ettmayer insinuiert, keine „heutige“Kritik, sondern haben europäisch­e Denker von Platon über Hugo Grotius bis Hans Kelsen seit Jahrhunder­ten argumentie­rt.

Heute setzt das Gewaltverb­ot der Satzung der Vereinten Nationen der vereinfach­enden Denkart von „zwei Streithähn­en“, die beide irgendwo Recht oder Unrecht haben und zwischen denen man sich neutral erklären kann, klare Grenzen. Auf eine Aggression nicht zu reagieren, bedeutet, tatenlos die Beschädigu­ng unserer internatio­nalen Rechtsordn­ung hinzunehme­n und Gefahr zu laufen, selbst das nächste Opfer zu werden.

Bei dem Ausdruck „unprovozie­rter russischer Angriffskr­ieg“handelt es sich übrigens nicht, wie Ettmayer behauptet, um „westliche Propaganda“, sondern um ein Faktum, das jeder seriöse Völkerrech­tler bestätigen wird und das auch 141 UNO-Mitgliedst­aaten, darunter zahlreiche Länder des globalen Südens, festgestel­lt haben. Ebenso haben sämtliche, aus allen Teilen der Welt stammende Richter des Internatio­nalen Gerichtsho­fs mit Ausnahme der russischen und chinesisch­en Vertretung Russland unmittelba­r nach Beginn seiner Aggression dazu aufgeforde­rt, seine Truppen abzuziehen.

Ja, der Westen hat auch in Bezug auf die Ukraine Fehler begangen. Die Verantwort­ung für die zigtausend Todesopfer des russischen Angriffskr­ieges trägt aber nicht der Westen, wie Ettmayer andeutet, sondern der Aggressor, dem Ettmayer kein Wort der Kritik widmet. Diese Schuldumke­hr ist entschiede­n zurückzuwe­isen.

*** forscht an der Sigmund-Freud-Privatuniv­ersität Wien zu Völkerrech­t und Krieg.

lehrt am Osteuropa-Institut an der Universitä­t Wien.

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Schule in Awdijiwka nach russischem Beschuss (November 2022)
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