Mut zum Mitgefühl
Auf dem deutschen Filmfestival wird hitzig debattiert, der Eröffnungsfilm mit Cillian Murphy ruft zur Solidarität auf und Ruth Beckermann findet den Russland-Ukraine-Krieg in einer Wiener Volksschule
„More Empathy“– „Mehr Mitgefühl“, forderte ein Besucher der Berlinale-Eröffnung bei seinem Gang über den roten Teppich: Diese Aufforderung zum Mitleid stand in großen Lettern auf seinem eleganten Cape zu lesen.
Empathie, Rücksichtnahme, Solidarität, kurz: Der Wunsch nach mehr Menschlichkeit ist auf der 74. Berlinale Programm. Das scheidende Festival-Leitungsduo Mariette Rissenbeek und Carlo Chatrian reagierte auf eine hitzige politische Debatte rund um den Auftakt des Filmfestivals, bei dem Politiker der rechtsradikalen Partei AfD zuerst ein- und dann wieder ausgeladen worden waren. In ihrer Eröffnungsrede betonte Mariette Rissenbeek einmal mehr die klare Haltung des Festivals: „Kein Platz für Hass“.
So gesehen wirkte das Schlussbild des Eröffnungsfilms „Small Things Like These“geradezu richtungsweisend: Ein Familienvater streckt einer ausgestoßenen jungen Frau die Hand entgegen und bietet ihr Schutz und Sicherheit.
Dass dieser Mann von Cillian Murphy, besser bekannt als oscarnominierter „Oppenheimer“gespielt wurde, machte die humanitäre Botschaft gleich noch attraktiver. Als Star des sommerlichen Blockbusters erlangte Murphy mit seinen berühmt blauen Augen Weltruhm und kann daher unbesorgt in kleineren Filmdramen leiser treten. In „Small Things Like These“spielt er einen verrußten Kohlehändler namens Bill, der in einer irischen Kleinstadt der 1980er-Jahre beobachtet, wie die Nonnen des örtlichen Klosters junge, „gefallene“Frauen hinter verschlossenen Türen ausbeuten.
Der belgische Regisseur Tim Mielants bezieht sich dabei auf einen historischen Kirchenskandal, bei dem in sogenannten Magdalenen-„Wäschereien“Mädchen bis ins
Jahr 1996 zur Zwangsarbeit genötigt wurden.
Bill weiß von dem Unrecht, das ihn an sein eigenes Schicksal als unehelicher Bub erinnert. Doch zähe Rückblenden
in seine Kindheit unterbrechen das ohnehin schon schwerfällige Psychogramm eines gequälten Mannes. Zudem weidet sich die Kamera endlos an Murphys leidendem Gesicht, dessen Charisma in den unzähligen Großaufnahmen langsam zu verblassen droht.
Sittenpolizei
Die Berlinale gilt nicht umsonst als politisches Festival: Zu seinen traurigen Routinen zählt die Tatsache, dass Filme aus dem Iran im Programm laufen, deren Regisseure nicht ausreisen dürfen. Heuer traf es das Regie-Duo Maryam Moghaddam und Behtash Sanaeeha: Sie durften „My
Favourite Cake“, ihr gewitztes Drama über eine alte, einsame Frau namens Mahin, nicht nach Berlin begleiten. Tatsächlich nehmen sich die Filmemacher in ihrer Kritik an der Regierungspolitik kein Blatt vor dem Mund. Bei einem ihrer Spaziergänge beobachtet Mahin, wie die Sittenpolizei im Park junge Frauen in den Kastenwagen zerrt, weil sie ihr Haupthaar nicht genügend bedecken. Wütend fährt Mahin dazwischen und beschimpft die derben Beamten. Ihre Courage ist gleichermaßen beeindruckend und herzzerreißend.
Politische und gesellschaftliche Konflikte grundieren auch das umwerfende
Porträt einer Volksschulklasse in Ruth Beckermanns „Favoriten“: Über drei Jahre beobachtete die renommierte Dokumentaristin eine Klasse im 10. Wiener Gemeindebezirk und verfolgt die Schulfortschritte der Kinder, die alle Migrationsgeschichte haben und mit der deutschen Sprache kämpfen. Der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine wird von den Kindern aus überraschenden und fantasievollen Perspektiven erörtert. Aber auf die Frage, ob sie je heiraten wollen, haben die kleinen Mädchen eine klare Antwort: Nein. Sie wollen viel lieber Abenteuer erleben. Das Premierenpublikum war begeistert.