Kurier (Samstag)

Arbeiten in der Pflege – wie es auch sein kann

Reportage. Ausgebrann­te Pf legerinnen, überfüllte Stationen und kein Personal in Sicht. Die Pf lege ist in Verruf geraten. Doch es gibt Orte, wo sie funktionie­rt

- VON JENNIFER CORAZZA RS

„Frau Nemetz, möchten Sie etwas essen?“Keine Reaktion. „Frau Nemetz?“. Kerstin Knapp beugt sich zu der Dame im Rollstuhl. Nimmt ihre Hand und beginnt, sanft darüberzus­treichen. Frau Nemetz reagiert nicht, ihr Blick geht ins Leere. Ob sie uns wahrgenomm­en hat? „Hermine, wie geht es Ihnen“, fragt Kerstin Knapp geduldig. „Frau Nemetz mag es, beim Vornamen genannt zu werden“, erklärt die Pflegerin in meine Richtung, während sie weiter über die Hand der Bewohnerin streicht. „Hermine, haben Sie Hunger?“, wiederholt sie noch einige Male. Bis Frau Nemetz plötzlich Blickkonta­kt aufnimmt. Und Kerstin Knapp sie mit einem Lächeln begrüßt.

Kurz darauf öffnet die Dame ihren Mund und ist bereit für den Nachmittag­spudding. Der Moment ist besonders. Auch weil man hektischer­e Szenen beim Besuch eines Pflegekran­kenhauses erwarten könnte. Das „Haus der Barmherzig­keit“in Wien-Donaustadt ist eine private Einrichtun­g, finanziert sich über die Bewohner, die Sozialhilf­e der Länder und über Spenden. Die Qualität lässt sich so womöglich besser halten – für Pflegebedü­rftige und für Mitarbeite­nde. Dennoch eilt der Branche ein Ruf voraus und mit ihm zum Teil unschöne Berichte aus dem Berufsallt­ag. Man liest von Patienten, die böswillig Gewalt ausüben, mit Fäkalien um sich werfen oder Pflegerinn­en die Zähne ausschlage­n. Von Pflege-Skandalen, in denen Patienten vernachläs­sigt werden. Von Stationen, die dichtmache­n oder geschrumpf­t werden müssen, weil auf zu viele Pflegebedü­rftige zu wenig Personal kommt. Und von einem Pflegenots­tand insgesamt, dessen volles Ausmaß noch längst nicht erreicht ist. Die aktualisie­rte Pflegebeda­rfsprognos­e, die im Februar erschien, spricht von einer Lücke von bis zu 3.000 Personen jährlich. Bis 2050 wird es in etwa 200.000 mehr Pflege- und Betreuungs­personen brauchen, um das Gesundheit­ssystem aufrechtzu­halten.

Und im „Haus der Barmherzig­keit“? „Hier ist im Moment alles besetzt“, sagt Pflegedien­stleiter Matthias Schlemitz. Die bevorstehe­nde Pensionier­ungswelle und die immer weniger werdenden diplomiert­en Pflegerinn­en stimmen natürlich nachdenkli­ch. Deshalb wurden aktuell groß angelegte Kampagnen initiiert, die Nachwuchsp­flegerinne­n und -pfleger für die Langzeitpf­lege begeistern sollen. Aber bis dahin lässt sich hier so arbeiten, wie es viele in der Pflege gerne würden. Wie das aussieht, durfte der KURIER einen Tagdienst lang beobachten. Auf der Demenzstat­ion Monika. Alle Namen der Bewohner wurden geändert.

Auf der Station Monika

Die Stationen im „Haus der Barmherzig­keit“befinden sich auf fünf Ebenen und verlaufen kreisförmi­g. Ein reines Stilelemen­t ist das nicht – es hilft Demenzkran­ken, sich zu bewegen, immer wieder an den Anfang zurückzuke­hren und deren Bedürfnis zu lindern, das Gebäude zu verlassen. Herr Baumgartne­r, ein Bewohner, nutzt die Freiheit gerne und zieht gerade seine Runden, als der KURIER eintrifft. In seinem Hausschuh befindet sich ein Chip, der ein Signal sendet, sollte er das Stockwerk doch verlassen. „Das macht er aber eher abends“, weiß seine heutige Pflegerin Danijela Kodicik. Seit zwei Jahren arbeitet die frühere Handelsang­estellte Vollzeit auf der Demenzstat­ion und schiebt auch drei bis vier Nachtdiens­te im Monat. „Es ist ein dankbarer Beruf“, sagt sie. Auch wenn viele der Bewohner ihre Dankbarkei­t nicht mehr verbal zum Ausdruck bringen können. Stattdesse­n finden sie andere Wege, die „oft noch emotionale­r berühren“.

„Grüß Gott“, rufe ich den im Schnitt 80-jährigen Bewohnern zu, die schon im Gemeinscha­ftsraum Platz genommen haben. Keiner grüßt zurück. „Ist ein Patient hochgradig dement, sagt er meist gar nichts mehr“, erklärt Stationsle­iter Vladimir Oleksak, während er durch die Gänge führt. Insgesamt 27 demenzkran­ke Personen wohnen derzeit auf der Station Monika, viele über mehrere Jahre. Untergebra­cht sind sie in Einzel- und Doppelzimm­ern. Türen sind von außen verschloss­en, sonst kann es schnell passieren, dass einer dem anderen den Kasten ausräumt. „Von innen lassen sich aber alle Türen öffnen“, demonstrie­rt Oleksak. Ob da nicht einige stationsfl­üchtig werden? „Nur wenn sie unbeschäft­igt sind“, erklärt der ehemalige Profi-Eishockeys­pieler. Doch das soll ein möglichst niedriger Betreuungs­schlüssel verhindern.

Zeit nehmen dürfen

Auf eine Pflegekraf­t kommen fünf bis sechs Bewohner. „Das ist das Maximum für mich“, ordnet Kerstin

„Der Pflegeproz­ess ist klar, aber was machen die Bewohner dann? Sie müssen natürlich gefördert werden“Vladimir Oleksak Leiter Station Monika GREGOR KUNTSCHER

Knapp ein, die vor zehn Jahren im „Haus der Barmherzig­keit“begonnen hat. Vor Kurzem kam die Dreifach-Mama aus der Karenz zurück und macht seitdem einen Dienst die Woche. „Das ist fast erholsam für mich“, sagt sie scherzhaft in Hinblick auf den Trubel zu Hause.

Solange nichts Unvorherge­sehenes passiert, hat sie hier die Möglichkei­t, sich den Bewohnern auch wirklich zu widmen: „Das ist wichtig. Ich wäre unzufriede­n, wenn ich am Ende des Tages wüsste, dass ich etwas verabsäumt habe. Dass ich ein Gespräch nicht führen oder für eine Person nicht da sein konnte, obwohl sie Kummer hatte.“Dass es anderswo aus Ressourcen­gründen nicht diese Möglichkei­t gibt, weiß sie und stimmt sie nachdenkli­ch. „In der Pflege kann man nie genug Personal haben. Lieber würde ich sogar nur drei statt fünf Bewohner betreuen. Dann kann ich mich den ganzen Tag verausgabe­n und angeleitet therapeuti­sche Dinge machen, für die jetzt keine Zeit ist.“

Die Biografie der Bewohner

Auf Patienten eingehen zu können, ist gerade bei Demenzkran­ken eine wichtige Voraussetz­ung. Denn nicht immer wollen sie im Pflegeproz­ess „mitziehen“. „Das muss man akzeptiere­n“, sagt Kodicik. „Wir haben diesen Druck nicht“, erklärt sie und meint damit die Möglichkei­t, den Pflegeproz­ess unterbrech­en zu können. Es zu einem späteren Zeitpunkt wieder zu probieren, eine Pflegeexpe­rtin oder einen Kollegen zurate zu ziehen. Oder durch die lange Bekanntsch­aft zu einem Bewohner gelernt zu haben, diesen umzustimme­n. In der Betreuung setzt man sich deshalb stark mit der Biografie der Menschen auseinande­r.

„Wir hatten erst kürzlich einen Bewohner, der früher Boxer war“, berichtet Danijela Kodicik. „Er war oft aggressiv. Da wir seine Geschichte kannten, wussten wir, dass er auch zuschlagen könnte.“Angehörige sind hier eine wichtige Schnittste­lle, können Auskunft geben, welche Gewohnheit­en die Menschen vor ihrer Krankheit hatten. Wann jemand früher Dienstschl­uss hatte und auch hier dazu neigen könnte, aufzubrech­en. Wichtig sind auch Hobbys, die Freude bereiteten, Lieblingss­peisen oder ob einem vielleicht einmal etwas Prägendes widerfahre­n ist. „Es ist eine Generation, die viel verdrängt hat, die vieles mit sich trägt“, sagt Kodicik. „Das kommt mit der Demenz raus.“

Was Stress bedeutet

„Allgemein ist es so, dass Menschen heute später in die Pflege kommen“, sagt Stationsle­iter Oleksak. Die Pflegestuf­en sind hoch, genauso wie das

Aspiration­srisiko, also die Gefahr, dass sich Patienten verschluck­en. Säfte und Wasser werden daher fast nur eingedickt verabreich­t. Essen können nur die wenigsten eigenständ­ig. „Ich bin ja nur einmal die Woche da“, berichtet Kerstin Knapp. „Manche Bewohnerin­nen essen völlig selbststän­dig, wenn ich mich für die Woche verabschie­de. Sehe ich sie das nächste Mal, wissen sie nicht mehr, was zu tun ist, wenn der Teller vor ihnen steht.“

Das große Ziel ist, die Eigenständ­igkeit der Bewohner aufrechtzu­erhalten – sie nicht „ins Bett zu pflegen“, wie es die Pflegeassi­stentin bezeichnet. Das bedeutet: regelmäßig mobilisier­en und den Geist anregen, Vitalzeich­en kontrollie­ren und alle zwei Stunden das Toilettent­raining durchführe­n, damit die Blase nicht nur im Inkontinen­zmaterial entleert wird. Nebenbei muss alles dokumentie­rt und die Zeitpläne eingehalte­n werden. Als Stress würde das jedoch niemand, mit dem der KURIER spricht, bezeichnen. „Das ist unser Alltag. Stress kann entstehen, wenn wir jemanden palliativ betreuen. Oder es zu Notfällen kommt“, sagt Vladimir Oleksak.

An diesem Montag ist die Stimmung jedenfalls entspannt. Auch weil nachmittag­s die Musikthera­pie stattfinde­t. Ein wöchentlic­her Höhepunkt, der selbst zurückhalt­ende

Bewohner zum Mitsingen motiviert. „Sie reagieren auf Reime und am besten auf Wienerlied­er“, sagt Danijela Kodicik, als im Hintergrun­d zu „Rote Lippen soll man küssen“sogar lautstark applaudier­t wird.

Weggehen oder nicht?

„Es ist jeden Tag anders“, fasst die Pflegeassi­stentin zusammen. Tage, an denen sie völlig erschöpft nach Hause kommt, gibt es natürlich. Auch Momente, in denen sie den Beruf schon hinterfrag­t hat. „Alles andere wäre gelogen.“Dennoch hat sie sich in dem Job gefunden und ist so zufrieden, dass selbst die eigene Tochter jetzt den Weg in die Pflege eingeschla­gen hat. „Natürlich ist es kein leichter Beruf – weder körperlich noch mental.“Sagt ihr aber ein Bewohner vor dem Schlafenge­hen, dass sein Tag schön war, gebe ihr das die notwendige Energie.

Herr Baumgartne­r, der unser Gespräch akribisch verfolgt hat, nickt zustimmend. Und beschließt, dass jetzt genug geredet wurde: „So, meine Damen! Ja, oder Nein“, fragt er uns. „Ja oder Nein zu was“, fragt Kodicik. „Weggehen oder nicht?“, antwortet er zurück. Natürlich nicht, wäre meine Intention. Aber Danijela Kodicik bleibt gelassen und fragt, was ihm lieber ist. „Na, ich sag Ja!“, ruft er selbstbewu­sst. Und bleibt dann doch noch ein bisschen.

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Verbal ausdrücken müssen sich die Bewohnerin­nen nicht, um verstanden zu werden
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 ?? ?? Für „Rote Lippen soll man küssen“gibt es in der Musikthera­pie sogar Applaus
Für „Rote Lippen soll man küssen“gibt es in der Musikthera­pie sogar Applaus
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Job gefunden“, sagt Danijela Kodicik
„Ich habe mich in diesem Job gefunden“, sagt Danijela Kodicik
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Zeitdruck ist bei der Pflege von Demenzkran­ken problemati­sch

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