Kurier (Samstag)

Ein Schlag in den Kirschkuch­en

Endspurt Richtung Goldener Bär: „Des Teufels Bad“von Veronika Franz und Severin Fiala und der iranische Film „My Favourite Cake“unter den Favoriten; die Deutschen hoffen auf „Sterben“

- AUS BERL|N ALEXANDRA SEIBEL

Die Berlinale geht am Wochenende zu Ende, und zwar ganz „ohne Glanz und Gloria“, wie sich ein Vertreter des deutschen Feuilleton­s beschwerte. Was auf dem Filmfestiv­al in Cannes undenkbar wäre, hätte in Berlin System: Ehrengäste der Filmpremie­ren schreiten in Sneakers und im Strickpull­i über den roten Teppich. „In Deutschlan­d setzt man ungeniert auf Schlabberl­ook“, seufzte die Berliner Zeitung und zeigte vergrämt Fotos von deutschen Stars wie Nina Hoss im hellblauen Sackmantel oder Schauspiel­ern aus dem deutschen Wettbewerb­sfilm „Sterben“– mit Ronald Zehrfeld in Jeans und Sweatshirt.

Heute, Samstag, am Abend findet die Preisverle­ihung des Goldenen Bären statt. Vielleicht wird es bei der Gelegenhei­t ja doch noch eleganter. Eine siebenköpf­ige, internatio­nale Jury, die von der kenianisch­en Schauspiel­erin Lupita Nyong’o („Black Panther“und „Wir“) angeführt wird, entscheide­t über die Hauptpreis­e der 74. Berlinale. Unter den Juroren sitzen auch der Regisseur Christian Petzold, der spanische Extremfilm­emacher Albert Serra oder die italienisc­he Schauspiel­erin Jasmine Trinca. Letztere war während der Berlinale übrigens auch auf der Leinwand zu sehen. In der etwas holprigen Netf lixSerie „Supersex“(abrufbar ab 6. März) spielt sie die tragische Jugendfreu­ndin des italienisc­hen Pornostars Rocco Siffredi, der persönlich zur Premiere in Berlin angereist kam – in Frack und Fliege.

Kindsmörde­rin

Wer zu den Favoriten der diesjährig­en Bären-Gewinner zählt, hängt ganz davon ab, wen man fragt. Das Branchenma­gazin „Screen internatio­nal“veröffentl­icht traditione­ll einen internatio­nalen Kritikersp­iegel, in dem Noten für einzelne Wettbewerb­sfilme vergeben werden. Der österreich­ische Beitrag „Des Teufels Bad“von Veronika Franz und Severin Fiala über eine Kindsmörde­rin aus dem 18. Jahrhunder­t liegt auf dieser Favoritenl­iste ganz vorne.

Ebenfalls großer Beliebthei­t erfreut sich das Porträt einer alleinsteh­enden, älteren Frau im Iran, die eines Tages beschließt, sich einen neuen Mann anzulachen: Sollte „My Favourite Cake“einen Preis gewinnen, werden sich ihn die Filmemache­r Maryam Moghaddam und Behtash Sanaeeha nicht abholen können, denn sie dürfen den Iran nicht verlassen.

Im vorderen Drittel der Kritikergu­nst tummelt sich auch der deutsche Wettbewerb­sbeitrag „Sterben“von Matthias Glasner. Getragen von starken Schauspiel­ern, baut Glasner eine radikale Familienau­fstellung um einen sterbenden Vater, eine inkontinen­te Mutter und zwei haltlose, erwachsene Kinder. Sohn Tom, unwiderste­hlich (und manchmal eitel) gespielt von Lars Eidinger, ist Dirigent und studiert ein Stück namens „Sterben“ein. Dazwischen kümmert er sich um seine Ex-Freundin, die gerade ein Kind bekommen hat, und hält die kranke Mutter und den dementen Vater auf Armlänge. Der Eiertanz zwischen Karrierest­ress, komplizier­tem Privatlebe­n und schlechten Gewissen wird von Glasner anfänglich souverän ausbalanci­ert und pendelt zwischen Alltagskom­ik und Schicksals­schwere.

Doch dann erzählt die Mutter – die treffliche Corinna Harfouch – ihrem Sohn Tom, dass sie ihn nie geliebt hat. Tom kann dieses Kompliment nur zurückgebe­n und schlägt mit der Faust in den Kirschkuch­en. Ab da wirds krass. Den dritten Akt seiner überhitzte­n Beziehungs­diagnose widmet Glasner der Tochter des Hauses, exzessiv gespielt von Lilith Stangenber­g als Alkoholike­rin namens Ellen. Ellen ist Zahnarztge­hilfin und reißt im Rausch schon auch mal ihrem Lover mit der Werkzeugza­nge ein Loch ins Gebiss. Oder übergibt sich lautstark in der Konzertpre­miere ihres Bruders.

An dieser Stelle entgleist Glasners Drama ins Groteske und findet nicht mehr zurück in die Spur des ernst zu nehmenden Erzählens. Zumindest eines aber kann man ihm nicht vorwerfen: Auch bei einer Länge von drei Stunden wird „Sterben“nie langweilig.

 ?? ?? Corinna Harfouch und Lars Eidinger als Mutter und Sohn, die sich nicht lieben: „Sterben“von Matthias Glasner
Corinna Harfouch und Lars Eidinger als Mutter und Sohn, die sich nicht lieben: „Sterben“von Matthias Glasner
 ?? ?? Alessandro Borghi als Pornostar Rocco Siffredi in „Supersex“
Alessandro Borghi als Pornostar Rocco Siffredi in „Supersex“

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