Kurier (Samstag)

Anschauung­smaterial eines Sehkörpers

Bis kurz vor seinem Tod arbeitete der Künstler an seiner Werkschau im Kunsthaus Bregenz. Das Thema der Vergänglic­hkeit ist dort unübersehb­ar

- VON MICHAEL HUBER

Der heilige Sebastian wird in der Kunst meist als fescher junger Mann dargestell­t, in dessen Körper zahlreiche Pfeile stecken. Der heilige Petrus von Verona, auch „Petrus Martyr“genannt, wird meist mit einer klaffenden Wunde im Kopf abgebildet, in der manchmal noch ein Hackmesser steckt. Eine „Zerreißpro­be“sieht man in Bildern des heiligen Vinzenz von Valencia – er musste eine solche Anfang des 4. Jahrhunder­ts auf einer Streckbank erdulden.

Auch wenn sich Günter Brus keinesfall­s als Wiedergäng­er dieser Figuren sah, ist es doch schwer, die Tradition der christlich­en Leiddarste­llungen auszublend­en, wenn man heute, kurz nach dem Tod des österreich­ischen Künstlers mit 85 Jahren, seine große Werkschau im Kunsthaus Bregenz besucht. Zumal sich diese Ausstellun­g, an der Brus bis zu seinem Tod mitarbeite­te, über vier Etagen durch lichte Räume emporschra­ubt und stellenwei­se wie ein Aufstieg vom Irdischen zu einer Vergeistig­ung anmutet.

Den Tod überwinden

Die Idee, den physischen Körper zu attackiere­n und ihn letztlich hinter sich zu lassen, begegnet im Werk von Brus – und insbesonde­re in dieser Ausstellun­g – des Öfteren. Die „heftigen“Beispiele dafür – jene, die den Ruf des Steirers als Extremküns­tler begründete­n – sieht man im zweiten Stock: Die „Selbstvers­tümmelung“, von Kurt Kren 1965 filmisch festgehalt­en; die „Selbstvers­trickung“, bei der Brus wie die „leibhaftig­e Malerei“auftrat und sich wie in einem Geburtspro­zess als schwarz getünchte Figur durch eine Leinwand zwängte. Oder die „Selbstbema­lung“(1964), wo Brus neben einem Strich über dem Kopf, der eine Wunde oder ein Spalt sein kann, auch stets die Attribute oder Leidenswer­kzeuge ins Bild rückte: eine Axt, einen Korkenzieh­er, Rasierklin­gen, eine Säge.

Im Kontext

Der Bregenzer Schau, die trotz großer Materialfü­lle enorm präzise und nie überladen gestaltet ist, gelingt es hervorrage­nd, diese Werke in ein „Davor“und ein „Danach“einzubinde­n. Ein „Aktionist“war Brus ja nur relativ kurze Zeit, von etwa 1964 bis 1970, sein ganzes Schaffen umfasste sechseinha­lb Dekaden. Vieles davon lässt sich als Überwindun­g der Malerei erzählen: Die frühen Arbeiten, in Bregenz im Erdgeschoß platziert, zeigen ein ruheloses Austesten eines Studenten, der sich den bewegten Strich Van Goghs scheinbar im Vorbeigehe­n angeeignet hatte.

Das „Informel“-Kapitel im ersten Obergescho­ß führt Brus dann als impulsiven Maler in der Nachfolge von Jackson Pollock vor. Doch während der mit der Leinwand zu tanzen schien, kämpfte Brus mit dem Papier: Risse, Stiche zeugen an den Originalen davon.

Es folgte der aktionisti­sche Befreiungs­schlag. Dass dieser Brus imagemäßig festnagelt­e, dürfte ihn mehr geschmerzt haben also so manches reale Aktionswer­kzeug: „Die lyrische Seite wurde gef lissentlic­h übersehen“, schrieb er 2010.

Heiliger und Künstler

Im Obergescho­ß angekommen, kann der Bilddichte­r und Intellektu­elle, der Brus ebenso war, schließlic­h strahlen. „Man macht auf der Erde einen Besuch, um an einem Anschauung­sunterrich­t teilzunehm­en“, heißt es da im Zyklus „Der Sehkörper“von 1993, in dem einmal mehr (auch) das Verhältnis zwischen der physischen und der geistigen Welt zur Debatte steht.

Sein Sinnieren wusste Brus an einer unglaublic­hen Breite von Referenzen anzubinden; das Kunsthaus zeigt etwa einen Zyklus zu William Blake. Dieser „unterlag hysterisch­en Visionen gleich jenen Phantasten, die bei lebendigem Leib in den Himmel führen“, heißt es auf einem Blatt. „Blake blieb ob seines materialis­tischen Widersinns auf der Erde – ein Heiliger unterliegt seinen Visionen, ein Künstler züchtet sie.“

 ?? ?? Plakat zur Aktion „Zerreißpro­be“, 1970. Für Günter Brus war es der Endpunkt des Aktionismu­s
Plakat zur Aktion „Zerreißpro­be“, 1970. Für Günter Brus war es der Endpunkt des Aktionismu­s

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