Kurier (Samstag)

Krieg, aber nur halb: Alleine im Bunker

Ukraine. Wie sich der erste Alarm anfühlt

- AUS |WANO-FRANK|WSK ANDREAS PUSCHAUTZ

Wir wussten, irgendwann musste es passieren. Zwei volle Tage hatten wir bereits ohne Luftalarm in der Ukraine verbracht. Am dritten Tag um 6 Uhr Früh war es dann so weit. „Air Raid Alert“, meldete die App, „proceed to the nearest shelter“. Wenig später bestätigte unser Sicherheit­sberater Volodymyr per WhatsApp die Ernsthafti­gkeit der Situation. „Good morning. Missile attack. You should proceed to the next shelter“, so seine knappe wie unmissvers­tändliche Nachricht.

Also raus aus dem Bett. Mindestens 30 Minuten, so wurde uns gesagt, beträgt die Vorwarnzei­t im Fall eines russischen Raketenang­riffs hier in Iwano-Frankiwsk, im Westen des Landes. Aber wer will sich darauf schon verlassen, wenn Sirenen heulen?

Unverständ­nis

Zehn Minuten später, im Schutzraum, dem Keller eines Theaters nebenan, changiert die Stimmung zwischen aufgeregt und irritiert. Die sechs Österreich­erinnen und Österreich­er und drei Ukrainerin­nen unserer Reisegesel­lschaft haben sich hier eingefunde­n. Dazu noch zwei vermeintli­ch ukrainisch­e Männer, ansonsten ist es leer. Auch die Damen an der Rezeption wirkten eher irritiert, dass wir wirklich in den Schutzraum gehen wollen und nicht einfach weiterschl­afen, wie es offensicht­lich die meisten Gäste des Hotels tun.

Ist man den Krieg hier schon so gewohnt, dass man sein Leben aus Bequemlich­keit aufs Spiel setzt?

Vermutlich geht es nicht anders. Selbst hier, weit weg von der Front, gibt es im Schnitt alle zwei Tage Luftalarm – der letzte Einschlag datiert aber vom 13. März 2022. Und auch sonst fühlt man sich hier wie in einer Zwischenwe­lt. Krieg, aber nicht richtig. Gefahr, aber nicht greif bar. Gewohntes Leben, aber doch nicht. Gedenken an gefallene Soldaten sind in den Orten so allgegenwä­rtig wie Checkpoint­s auf den Landstraße­n. Abgesehen davon deutet wenig darauf hin, dass man sich in einem Land im Kriegszust­and befindet. Dennoch: „Es gibt keine Sicherheit“, sagt Ksenia im Bunker. „Es gibt nur relative Sicherheit.“

Eigenveran­twortung

Gleichzeit­ig geht das Leben weiter, muss man funktionie­ren, möchte mehr als nur das. Leben eben. Also arrangiert man sich mit der latenten Gefahr. Man spürt deutlich, Ksenia und ihre beiden Kolleginne­n wären nicht aufgestand­en, wären ihre österreich­ischen Gäste nicht hier. Ob wir den Bunker wohl schon wieder verlassen dürfen? Immerhin sitzen wir hier seit 90 Minuten, es wird langsam kalt, die ersten werden hungrig, andere müssen auf die Toilette. „Das“, sagt Ksenia, „ist eine persönlich­e Entscheidu­ng, die wirklich jeder für sich treffen muss“.

Nach zwei Stunden beschließe­n wir, den Bunker zu verlassen. Die beiden Männer sind zu diesem Zeitpunkt schon seit Längerem weg. Draußen geht das Leben seinen gewohnten Gang. Die Busse sind so voll wie die Straßen und der Frühstücks­raum des Hotels, vor dem bereits unsere beiden Fahrer warten.

Eigentlich sollten wir uns gleich auf den Weg machen. In die Kleinstadt Drogobych, um ein Familienze­ntrum von SOS-Kinderdorf zu besuchen. Während wir vorher noch den ersehnten Kaffee trinken und auch die offizielle Entwarnung einlangt, langen auch die ersten Nachrichte­n über den großflächi­gen russischen Angriff ein. Neben Treffern in Kiew und Mykolajiw ist eine Rakete auch im Westen des Landes eingeschla­gen. In Drogobych. Wie gesagt: Es gibt keine Sicherheit.

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