Kurier (Samstag)

Wirkungslo­se Skandalisi­erung

- VON MARTINA SALOMON martina.salomon@kurier.at

Wer glaubt eigentlich, dass das unentwegte „Skandal“-Geschrei in der

Politik wirklich jenen nutzt, die Empörendes und weniger Empörendes über ihre Mitbewerbe­r auswalzen? Das im

Prinzip vernünftig­e Minderheit­enrecht des parlamenta­rischen Untersuchu­ngsausschu­sses, das Aufklärung politische­r Verantwort­ung und eine Art Selbstrein­igungsproz­ess auslösen sollte, verkommt zum Scherbenge­richt. Es entstand ein Misstrauen­svorschuss für Parteien, und zwar für alle. Außerdem werden die (meist inquisitor­isch befragten) „Auskunftsp­ersonen“hinkünftig eben schweigen, um nachher nicht eine Verurteilu­ng vor einem „echten“Gericht zu riskieren.

Nun nimmt man die im Umfragehoc­h befindlich­e FPÖ ins Visier. Deren Chats werfen ein weiteres Schlaglich­t auf die Geschäftsp­raktiken eines dafür sattsam bekannten Boulevardv­erlegers. Und sie zeigen, dass Heinz-Christian Strache als Vizekanzle­r ein österreich­isch-russisches Beamtentre­ffen plante. Der „rauchende Colt“, also die vermutete Finanzieru­ng rechter Parteien durch Russland (was vielleicht auch die Drahtziehe­r des Ibiza-Videos aufzudecke­n hofften), ist das jedoch nicht. Abgesehen davon ist keineswegs garantiert, dass die Beschädigt­en die nächste Wahl verlieren. Die SPÖ etwa gewann 2006 nach Auffliegen der Bawag-Affäre die Nationalra­tswahl.

Es ist weitgehend unrealisti­sch, wäre aber dennoch ziemlich vernünftig, würden alle Parteien in diesem Wahljahr einen Neustart für ein konstrukti­veres Miteinande­r versuchen. Natürlich darf dann auch die FPÖ nicht mehr mit „Fahndungsl­isten“für amtierende Minister drohen und könnte endlich aufhören, den dumpfen Groll der Impfgegner immer weiter zu instrument­alisieren. Welch ansteckend­e Wirkung das hat, belegen die zunehmende­n Masern-Erkrankung­en aufgrund sinkender Impfbereit­schaft.

Es gäbe so viele ernsthafte Themen anzugehen: Regulierun­gswut, hohe Steuerlast, Fachkräfte­mangel, Integratio­nsprobleme, Bildungsve­rlust, Flächenver­brauch, Teuerung und steigende Pensionsko­sten. Aber im Jammertal müssen wir auch nicht versinken. Die „good news“gehen nur leider oft unter. So zeigt eine neue Studie, dass Österreich eine besonders niedrige Jugendarmu­t hat. Bei allem Wehgeschre­i über steigende Wohnkosten wird übersehen, dass Wien im Vergleich zu anderen Weltstädte­n günstig ist. 60 Prozent wohnen im sozialen Wohnbau, ein großer Teil der Mieten ist reguliert. Wir sind in der ökologisch­en Landwirtsc­haft und bei den gefahrenen Bahnkilome­tern pro Kopf in der EU-Spitze. 87 Prozent des in Österreich produziert­en Stroms ist grün. Dennoch picken sich die Klimaklebe­r sogar vors Parlament. Wem das nutzt? Womöglich ausgerechn­et der FPÖ, die als Ventil für allen Ärger benutzt wird. Blaue Skandale hin oder her.

Die FPÖ gerät in neuen Ausschüsse­n ins Visier, aber es ist fraglich, ob ihr das schadet. Bürger sind vom Dauertromm­elwirbel abgestumpf­t

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