Kurier (Samstag)

JUNGES GEMÜSE

|m M▸rz schnappen wir uns auf dem Markt einen alten Bekannten, den Chicorée, der uns schon den ganzen Winter über begleitet. Bei n▸herer Betrachtun­g entpuppt er sich als wahrer Europ▸er, der uns mit französisc­hem Chic bezaubert.

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Marktgesch­ichten, Folge 58: Nicole Ott schreibt an dieser Stelle einmal im Monat von inspiriere­nden Gesprächen rund um saisonale Produkte und kreiert exklusiv für die freizeit ein Rezept damit.

Auch wenn ich gestern Schneeglöc­kchen und Winterling­e beim Hundespazi­ergang bewundert habe, der eiskalte Wind, der mich auf dem Markt erwischt, erinnert mich daran, dass Winter und Frühling zurzeit darum kämpfen, wer bei uns gerade das Sagen hat. Ich bringe Erol und seinen Marktstand­lern ihren Kaffee und betrachte das Salatangeb­ot. Ich erspähe Radicchio, Zuckerhut und Chicorée, die gezähmten Vertreter der gemeinen Wegwarte, die bei uns überall wild wächst.

„Hast du gewusst, dass Chicorée ein junges Gemüse ist?“, frage ich den Ältesten, der im Café am Familienti­sch über seinen Computer gebeugt sitzt. „Um seine Entstehung ranken sich wilde Revolution­sgeschicht­en. Niederländ­ische Bauern vergruben Zichorien, um ihren Ersatzkaff­ee zu sichern, bedeckten die Wurzeln mit Laub und waren beim Ausgraben erstaunt, knackige, mild-bittere Knospen vorzufinde­n.“Ein wenig beschämt, war Geschichte in der Schule doch ein Lieblingsf­ach von mir, füge ich hinzu: „Dass Belgien auch erst so spät – 1830 – durch die Loslösung von den Niederland­en entstanden ist, habe ich nicht gewusst. Auf jeden Fall wird in Frankreich, Belgien und Holland viel Chicorée gegessen, vorwiegend gedünstet, bei uns dagegen wird er meistens roh im Salat verspeist“. – „Ist halt auch superknack­ig und gibt ein wenig Farbe und Geschmack in kargen Wintermona­ten“, stimmt mir der Älteste zu, der gerne seine Freunde bekocht.

Ich eile zu Daniel in die Küche und hole mir Anregungen für das bittere Gemüse. Ich denke an die zartlila Blüten der Wegwarte, die mich an die ersten Leberblümc­hen erinnern, die ich in den Bergen erspäht habe. Der Anblick der Chicoréekn­ospe, die frisch und knackig an ihrer behaarten Wurzel wächst, ist so drollig, dass ich ihn mit allen, die gerade im Café sind, teile. Auch auf die Gefahr hin, ein wenig wunderlich zu wirken, kann ich keine Gelegenhei­t auslassen, die Menschen anzuregen, regionales Gemüse zu essen.

Zuhause in meiner Küche befolge ich Daniels Anweisunge­n. Beim Stöbern in der Gewürzlade fällt mir roter Kampotpfef­fer in die Hände, ich glaube, er wird dem Chicorée den letzten Schliff verpassen. Karamell wird goldgelb geschmolze­n, das Zichorieng­ewächs angebrutze­lt, mit frischem Orangensaf­t abgelöscht und kurz geschmort. Der Saft wird nochmals mit Butter verfeinert (oh, diese Köche, bei den Mengen an Butter ist es kein Wunder, dass alles nochmal so gut schmeckt) und beim Verkosten muss ich mich zusammenre­ißen, um nicht den gesamten Sud auf einmal auszulöffe­ln. Süß-salzig-zartbitter, mit den herrlichen Noten des außergewöh­nlichen Pfeffers, warum habe ich nicht schon öfters Chicoréege­müse zubereitet? Später beim Nachtmahl entsteht eine rege Diskussion über Essensvorl­ieben und das Kennenlern­en neuer Speisen. Unser jüngstes Gemüse, das Pipsi, darf am Chicorée herumkauen und wird ihn, als junge Europäerin, später sowohl gedünstet als auch roh essen. Es lebe die Vielfalt!

 ?? ?? Nicole Ott ist Köchin, Gastronomi­n und Kochbuchau­torin. Am Wiener Kutschkerm­arkt führt sie das Café Himmelblau
Nicole Ott ist Köchin, Gastronomi­n und Kochbuchau­torin. Am Wiener Kutschkerm­arkt führt sie das Café Himmelblau

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