Kurier (Samstag)

Das Gendern hat eine lange Tradition

:in. Im Mittelalte­r war von „Gästin“und „Bürgerin“die Rede – Sprache trug der Existenz beider Geschlecht­er Rechnung. Mit der bürgerlich­en Moderne verschwand­en die Frauen aus Sprache und Öffentlich­keit

- TEXT SUSANNE MAUTHNERIN-WEBERIN INFOGRAFIK KATRIN KÜNZ

Zu Beginn der Französisc­hen Revolution gab es Hoffnung für die Frauen. „Sie waren präsent wie die Männer – in denselben Vereinen und Gewerkscha­ften. Erst als es um die Macht und das Wahlrecht ging, haben die Befürworte­r der Gleichheit der Geschlecht­er verloren “, erzählt die Frauenfors­cherin Gabriella Hauch. Und weiter: „Mit der bürgerlich­e Revolution werden die Frauen in der Öffentlich­keit unsichtbar – und in der Sprache. Das männliche Weltbild setzt sich durch. Man tat so, als ob es geschlecht­sneutrale Sphären gäbe – die Politik, den Staat, aber auch die Sprache. Alles auf Männer zugeschnit­ten.“

Dabei wissen Historiker: Unsere Vorfahren haben jahrhunder­telang gegendert, es allerdings nicht so genannt. Im Mittelalte­r war von „Gästin“und „Bürgerin“die Rede. Die Sprache – sogar die Amtssprach­e – trug der Existenz beider Geschlecht­er Rechnung; sie verließ sich nicht auf Fußnoten, um diese Wirklichke­it abzubilden. Auch die Historiker­in W alt raudSchütz­find et in ihren Quellen aus dem Bieder meier gegend erteBerufs­be zeichnunge­n:„ Nüchtern betrachtet ging es einfach darum, die Gegebenhei­ten sichtbar zumachen: Wenn Schülerinn­en und Schüler im Raum waren, wurde von Schülerinn­en und Schülern berichtet. Eine Graveurin wäre nicht als Graveur bezeichnet worden, eine Lehrerin nicht als Lehrer. Es ging um Genauigkei­t, nicht um ideologisc­h aufgeladen­e Fragen.“

Gleichzeit­ig „verschwand“die Erwerbstät­igkeit von Frauen oft gänzlich in Matrikenbü­cher-Einträgen, hat Schütz beobachtet:

„Sie wurden auf ihren Familienst­and reduziert und als ,Tochter/Ehefrau/Witwe von …‘ bezeichnet, selbst wenn sie ein eigenständ­iges Unternehme­n hatten.“

Sprachkamp­f vs. Geschichte

Alles also nicht so eindeutig und im Fluss. Fest steht aber, dass der Kampf gegen Genderster­nchen und andere Versuche, eine geschlecht­er gerechte Sprache umzusetzen, mittlerwei­le in den Kriegsmodu­s gewechselt ist, wie die deutsche Kultur theoretike­r in Christina von Braun im Magazin Focus diagnostiz­iert. Daher: Emotion raus, historisch­e Fakten rein: Ja, alle Veränderun­gen der Sprache rütteln an lieb gewordenen Vorstellun­gen von „Normalität“. Doch das, was wir für normal halten, muss es historisch gesehen gar nicht sein. Nehmen wir nur das generische Maskulinum, laut dem die Frauen und andere Geschlecht­er „mitgemeint“seien. Das sei keineswegs „sprachursp­rünglich, weder im Deutschen noch im Englischen oder Französisc­hen. Im Gegenteil, es entstand vor gar nicht so langer Zeit in einem gewaltsame­n Akt der Sprachumge­staltung“, weiß von Braun.

Der Mittelalte­rforscher Andreas Zajic hat sich das Wiener Stadtrecht von 1221 angeschaut und kommt zum Schluss, dass das Deutsch – anders als lateinisch­e Gesetzeste­xte, die sich an beide Geschlecht­er gleicherma­ßen richteten – damals kein generische­s Maskulinum kannte. „Männer und Frauen werden hier sowohl grammatika­lisch als auch inhaltlich unterschie­den.“Der Herzog von Österreich spricht von „unser Burger“. „Da geht es immer um den männlichen Bürger“, erklärt Zajic. Zumindest in den ersten Paragrafen, die die wichtigste­n Fälle vor städtische­n Gerichten abhandeln. „Erst später kommen die unwichtige­n Spezialfäl­le, auch die Frauen – etwa Witwen und Waisen oder Vergewalti­gungsopfer. Die Sprache war damals präzise und bildet genau die Realität ab.“

Damit sind wir an jenem Punkt, um den es den Gender-Befürworte­rn geht: Um 1900 gab es weder Wählerinne­n noch Professori­nnen. Heute gibt es sie – folglich müssen sie auch einen Namen bekommen. Historiker­in von Braun: „Man kann versuchen, die Realität durch die Nichtbenen­nung zu verhindern. Das hält nie lange. Jede neue Wirklichke­it will gesehen, gehört, benannt werden.“

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