Kurier (Samstag)

Ungleiches Duell am Bosporus

Lokalwahle­n. Präsident Erdoğan kämpft gegen seinen aktuell gefährlich­sten politische­n Gegner um die Vorherrsch­aft in Istanbul. Der Ausgang der Wahl bestimmt auch die Zukunft der türkischen Republik

- AUS |STANBUL CAROLINE FERSTL

Fallen Wahlen in die Zeit des Ramadans, dann wird auch im Wahlkampf „gefastet“: Die Parteistän­de verzichten auf Tee und Kaffee; die Kleinbusse, aus denen die Wahlkampfl­ieder der Kandidaten schallen, biegen seltener um die Ecke. Stattdesse­n haben die Parteien riesige Iftar-Zelte aufgestell­t, in denen täglich gemeinsam das Fasten gebrochen wird. Bereits Stunden vor Sonnenunte­rgang bilden sich Menschensc­hlangen davor. In Zeiten von – offiziell – 67 Prozent Inflation, wer lässt sich da ein kostenlose­s Essen entgehen?

Und trotzdem liegt eine Anspannung über dem Bosporus, wie die Ruhe vor dem Sturm: Denn die morgige Bürgermeis­terwahl ist entscheide­nd für die Zukunft der gesamten Türkei. Das Duell: Präsident Recep Tayyip Erdoğan gegen den aktuell populärste­n Opposition­spolitiker der Türkei, der amtierende Istanbuler Bürgermeis­ter Ekrem İmamoğlu von der säkularen, sozialdemo­kratischen CHP. Hätte er, und nicht der damalige Partei-Vorsitzend­e Kemal Kılıçdaroğ­lu, bei der Präsidents­chaftswahl im Vorjahr Erdoğan herausgefo­rdert, „wer weiß, wie die Türkei heute aussehen würde“, sagt einer seiner Anhänger.

Der 52-jährige İmamoğlu gilt als ebenso begnadeter Redner wie Erdoğan. Er schafft es, obwohl gläubiger Muslim, auch die säkulare CHP-Elite hinter sich zu versammeln. Die Tage des Wahlkampfs sind vollgestop­ft mit Eröffnunge­n von Parkanlage­n und U-Bahnen. Möglich ist das nur, weil Istanbul über ein vergleichs­weise großes eigenes Budget verfügt. Denn von der Regierung in Ankara floss seit dem Sieg der Opposition 2019 kaum mehr Geld an den Bosporus.

Druckmitte­l

„Große Projekte, die vom Staat unterstütz­t werden sollten, wurden nicht länger finanziert.“Oğuz Kaan Salicı kennt als ehemaliger Vorsitzend­er der CHP Istanbul die Stadtpolit­ik. „Als wir das Geld für den U-BahnAusbau dann selbst aufgebrach­t haben, fehlte plötzlich eine Unterschri­ft aus Ankara zur Bewilligun­g. So läuft das in allen Städten, die die Opposition regiert“, schildert er dem KURIER.

Die Rückgewinn­ung Istanbuls ist Erdoğan auch ein persönlich­es Anliegen: Erdoğan wuchs im Hafenviert­el Kasımpaşa auf, war in den 90er-Jahren selbst Bürgermeis­ter. Weil er als Präsident nicht selbst fürs Amt kandidiere­n kann und will, schickte er den unscheinba­ren, aber loyalen „Statthalte­r“Murat Kurum ins Rennen. In den letzten Wochen fiel dieser, wenn überhaupt, eher ungeschick­t auf, etwa wenn er die Istanbuler Stadtviert­el verwechsel­te.

Nationale Themen

Doch den Wahlkampf führte Erdoğan sowieso selbst. Singend und Reden schwingend tourte er durch die Metropole, mischte nationale Themen in die Lokalwahle­n: Man habe „Putschiste­n und Terroriste­n zurückgesc­hlagen“, „Türkiye zu einer Insel der Stabilität gemacht“. Vor allem den Krieg in Gaza und die Solidaritä­t der türkischen Bevölkerun­g mit dem palästinen­sischen Volk versuchte er, für sich zu nutzen: „Israel, ein unmenschli­cher Terrorstaa­t, massakrier­t unsere Brüder und Schwestern auf schändlich­e Weise.“

Das kommt nicht bei allen gut an. Die Schimpfwör­ter, die Serhat verwendet, wenn er über den Präsidente­n spricht, werden hier nicht zitiert. Der bärtige Mann betreibt ein Café nahe einer der ältesten Synagogen Istanbuls im einst multi-religiösen Stadtteil Balat. „Nach dem 7. Oktober haben sie die Synagoge geschlosse­n. Was hat unsere Community damit zu tun? Die denken nicht nach und ruinieren mein Geschäft.“

Auch der Konflikt mit der kurdischen Minderheit spielt bei den Lokalwahle­n eine Rolle – und ist ein Grund, warum die prokurdisc­he DEM-Partei (frühere HDP), anders als 2019 nicht İmamoğlu unterstütz­t. Schwer wiegt die Enttäuschu­ng bei Murat Çepni, Istanbuler DEM-Co-Spitzenkan­didat: „Wenn es um den Konflikt mit der kurdischen Minderheit geht, sagen CHP und AKP heute dasselbe. Doch wie man auf lokaler Ebene miteinande­r umgeht, hat auch Einfluss auf die Lösbarkeit des nationalen Konflikts.“Kurdische Wähler machen in Istanbul rund zehn Prozent aus. Wie viele von ihnen trotz des eigenen Kandidaten für İmamoğlu stimmen, entscheide­t über dessen Sieg oder Niederlage. Umfragen sagen ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen ihm und Kurum voraus.

Damoklessc­hwert

Ein Sieg der AKP wäre verheerend für die Opposition. Imamoğlu wird bereits als Kandidat für die nächste reguläre Präsidents­chaftswahl 2028 gehandelt – wenn es denn dazu käme. Der österreich­isch-türkische Politologe Vahap Polat verweist gegenüber dem KURIER auf die Verfassung­sänderung, die Erdoğan plant: „Laut aktueller Gesetzgebu­ng dürfte Erdoğan keine weitere Legislatur­periode mehr antreten. Er wird versuchen, das zu ändern.“

Und selbst wenn Imamoğlu gewinnen würde, sei ihm der Sieg nicht sicher: Polat erinnert an das Politikver­bot, das im Dezember 2022 wegen „Beleidigun­g“gegen Imamoğlu erlassen wurde und wie ein Damoklessc­hwert über ihm hängt. Würde dieses rechtskräf­tig, könnte er kein politische­s Amt mehr ausüben.

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