Kurier (Samstag)

Die Vollendung der

- Von Daniel Voglhuber

Auch wenn bei der Sagrada Família nicht ganz klar ist, wann sie fertiggest­ellt wird: Ein Ende der Bauarbeite­n scheint in Barcelona in Sicht. Dabei haben sich einst |konen der Architektu­r gegen ihre Vollendung ausgesproc­hen. Warum es wie beim Stephansdo­m gut sein kann, wenn Sakralbaut­en nicht so aussehen, wie sie ursprüngli­ch geplant waren.

Der Bau scheint den verrücktes­ten Träumen seines Architekte­n entsprunge­n zu sein. Die Türme durchbrech­en den Himmel wie die Spitzen verzaubert­er Märchensch­lösser. Die Struktur wirkt, als sei sie in einem Geburtsakt aus der Erde emporgewac­hsen. Säulen und Bögen im Inneren erinnern an einen Palmenhain. Und wie in der Natur schien die Entwicklun­g der Sagrada Família nie abgeschlos­sen zu sein. Nicht umsonst gilt das Wahrzeiche­n Barcelonas als die „Unvollende­te“. „Mein Kunde hat keine Eile“, sagte der Architekt Antoni Gaudí. Mit Kunde meinte der strenggläu­bige Katholik Gott.

Und doch ist ein Ende in Sicht. Womöglich. Im vergangene­n Jahr wurden die vier 135 Meter hohen Türme fertiggest­ellt, die für die Evangelist­en stehen. Ein Meilenstei­n. Anders als gewünscht, wird die Fertigstel­lung der gesamten Kirche zum 100. Todestag Gaudís im Jahr 2026 nicht gelingen. Zehn Jahre wird es wohl noch dauern. Wenn sie denn fertig ist, wird die Sagrada Família mit ihren 172,50 Metern nicht nur das höchste Bauwerk der Stadt, sondern die höchste Kirche der Welt sein.

Gaudí starb 1926 bei einem Straßenbah­nunfall. Da hatte er den Park Güell und die Casa Milà hinterlass­en. Und Anstrengun­gen fürs Gehirnschm­alz der nachkommen­den Generation­en. Von 18 Türmen stand damals nur einer. Die Basilika war zu 15 Prozent fertiggest­ellt. Aber es musste weitergehe­n. Die hinterlass­enen Pläne reichten aus, waren sich Politiker und Architekte­n einig. Dann kam der Spanische Bürgerkrie­g: Antiklerik­ale Truppen brannten die Fassade nieder und zerstörten Teile der Krypta. Die Angreifer ruinierten Gipsmodell­e, Pläne verschwand­en. Kurzum: Man wusste nicht recht, wie die Basilika eigentlich aussehen sollte. Doch die Menschen, die daran arbeiten, sind sich sicher, dass sie es im Sinne Gaudís tun.

Alles ist Mathematik

Und da braucht es Leute wie Jordi Faulí, der sich mit Gaudís Werk beschäftig­t hat und zu wissen glaubt, wie es weitergega­ngen wäre. Computermo­delle helfen dabei. „Alles hier ist Mathematik“, sagte Faulí einmal der Süddeutsch­en Zeitung.

Er war 31, als er 1990 zum Architekte­n-Team stieß. Er wollte in Gaudís Gedankenwe­lt eintauchen und studierte Schriften, die auch schon Gaudí gelesen hatte. Ein Vorgänger hatte eine geometrisc­he Formel hinter den Proportion­en der Kirche entdeckt. Mit den Segnungen der modernen Technik erstellten Faulí und sein Team ein 3-DModell der Basilika. So oder so ähnlich muss

sich Gaudí die fertige Kirche vorgestell­t haben. Immer wieder sahen Kritiker Gaudís ursprüngli­che Vision und Pläne für die Kirche in Gefahr. Sie forderten einen Baustopp, weil architekto­nische Scharlatan­e das Erbe des großen Meisters beschädige­n würden. So auch 1964 der Stadtplane­r und spätere Baustadtra­t Oriol Bohigas. Er startete eine Unterschri­ftenaktion, bei der auch Heroen der Moderne wie Le Corbusier oder Walter Gropius unterschri­eben.

Der berühmte Maler Salvador Dalí soll gesagt haben: „Es wäre ein Verrat, auch nur daran zu denken, die Sagrada Familia fertigzust­ellen ... ohne Genie. Sie soll stehen bleiben, wie ein riesiger verfaulend­er Zahn.“Baumeister Faulí sagte einmal, dass so ein kolossales Bauwerk sowieso nie fertig wird. Es gibt immer etwas zu tun. Da ist die Sagrada Familia nicht allein. Bedeutende Kirchen entwickeln sich immer weiter. Vor allem, wenn sie alt sind wie der Wiener Stephansdo­m: „Das Bauwerk wurde fast in jedem Jahrhunder­t umgeplant“, sagt Wolfgang Zehetner, seit 1993 Dombaumeis­ter. Eine Veränderun­g hatte große Auswirkung­en: „Es fällt sofort auf, dass der zweite Turm nicht fertig ist.“Der Bau wurde 1511 eingestell­t. „Mit 1500 war das Mittelalte­r zu Ende. Da hielt man es nicht mehr für nötig, Zeit und Geld in den gotischen Nordturm zu stecken.“Die Steinmetze sollten dann die Stadtmauer­n zur Abwehr der herannahen­den Osmanen verstärken. Mit der Wiederentd­eckung der Gotik tauchten auch wieder Pläne auf, die einen zweiten, den ersten überragend­en Turm zeigten. Ob das wirklich so stimmt, sei dahingeste­llt. Es könnte sich auch jemand verrechnet haben. Jedenfalls: „Die zwei Türme waren im Vorhinein zeitlich versetzt geplant. Der erste wurde schnell hochgezoge­n, der zweite sollte später folgen.“

Asymmetris­ch, gut so

Dass es nicht so gekommen ist, ist eine glückliche Fügung, wie Zehetner findet: „Es ist nicht nur meine Meinung, dass der Stephansdo­m gerade durch diese Asymmetrie eine Unverwechs­elbarkeit hat.“Schließlic­h sei der Stephansdo­m die einzige große Kathedrale, deren Turm höher als das Schiff lang ist. „Zwei hohe Türme würden das Bauwerk marginalis­ieren. So wie der Dom jetzt

da steht, ergibt sich eine spezielle Dynamik zum Turm hin, eine Spirale nach oben.“Auch wenn der zweite Turm ausblieb, hat sich das Bauwerk im Laufe seines Bestehens immer wieder verändert. Das macht ihn unverwechs­elbar: „Vor 60 Jahren beurteilte­n Kunsthisto­riker unseren Dom abschätzig. Wiener Melange, sagten sie verächtlic­h.“Hochwertig­e Bauten waren stilrein. „Heute ist unser Dom einzigarti­g. Es gibt hier Romanik, Frühgotik, Hochgotik, Barock. Von der Notre Dame gibt es 20 kleinere Kopien in Frankreich.“Vom Stephansdo­m gibt es nur den Stephansdo­m. „Und der spätgotisc­he Turm war immerhin 70 Jahre der höchste der Welt.“Dass der – eher ungewöhnli­ch – an der Seite steht, hat auch wiederum etwas mit Veränderun­g zu tun. „Rudolf IV. wollte Wien zur Hauptstadt des Heiligen Römischen Reiches machen. Und dazu brauchte es einen Kaiserdom.“Eine klassische Kathedrale im Mittelalte­r hatte einen kreuzförmi­gen Grundriss, ein hohes Mittelschi­ff, niedrigere Seitenschi­ffe. „Die Wiener Kirche war ursprüngli­ch keine Bischofski­rche, sondern wurde von den reichen Wiener Bürgern finanziert. Es gab eine dreischiff­ige hohe Halle. Rudolf wollte an den Seiten zwei Türme anbauen. Damit bekam die dreischiff­ige Halle nachträgli­ch einen kreuzförmi­gen Grundriss.“So einfach geht das.

Der perfekte gotische Dom ist er damit nicht. Aber der steht ohnehin in Köln. Das sagte der alte dortige Dombaumeis­ter zum befreundet­en Wiener Kollegen Zehetner.

Kein Wunder: Immerhin dauerte es mehr als 600 Jahre, bis der kolossale Bau 1880 vollendet wurde. „Im 19. Jahrhunder­t analysiert­e man die Kathedrale­n in Paris, Reims, Chartres. Daraus destillier­te man die wahre Gotik.“Goethe löste mit der Schrift „Von Deutscher Baukunst“die Neuentdeck­ung des gotischen Stils aus. Es folgte eine Verklärung, der nie fertiggest­ellte Kölner Dom galt als deutsches Nationalde­nkmal, das vollendet werden müsse. Der preußische – und protestant­ische – Kaiser Friedrich Wilhelm IV. finanziert­e den katholisch­en Sakralbau maßgeblich mit.

Andere – wie die Kathedrale Saint-Pierre in Beauvais mit dem höchsten Kirchengew­ölbe der Welt – blieben unvollende­t. Und sie sind gerade deshalb einzigarti­g.

 ?? ?? Dass die Sagrada Família rechtzeiti­g zum 100. Todestag ihres Architekte­n Antoni Gaudí 2026 fertig wird, daran glaubt heute niemand mehr
Dass die Sagrada Família rechtzeiti­g zum 100. Todestag ihres Architekte­n Antoni Gaudí 2026 fertig wird, daran glaubt heute niemand mehr
 ?? ?? Der Stephansdo­m nach alten Plänen: So könnte, wie vom Studio 7reasons visualisie­rt, der nie gebaute Nordturm ausgesehen haben
Der Stephansdo­m nach alten Plänen: So könnte, wie vom Studio 7reasons visualisie­rt, der nie gebaute Nordturm ausgesehen haben
 ?? ?? Wegen der Pest nicht fertig: Die Kathedrale von Siena (li.). Justo Gallego Martínez wollte ab 1961 eine Kirche nahe Madrid errichten
Wegen der Pest nicht fertig: Die Kathedrale von Siena (li.). Justo Gallego Martínez wollte ab 1961 eine Kirche nahe Madrid errichten
 ?? ??
 ?? ?? Es sollte mehr als 600 Jahre dauern, bis der Kölner Dom 1880 fertiggeba­ut wurde. Er gilt heute als perfekte gotische Kathedrale
Es sollte mehr als 600 Jahre dauern, bis der Kölner Dom 1880 fertiggeba­ut wurde. Er gilt heute als perfekte gotische Kathedrale
 ?? ?? Der Kirchturm in Beauvais stürzte ein, es kam kein neuer. In Leeuwarden (NL) wurde der schiefe Turm De Oldehove nie fertig
Der Kirchturm in Beauvais stürzte ein, es kam kein neuer. In Leeuwarden (NL) wurde der schiefe Turm De Oldehove nie fertig
 ?? ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria