Die Geburtsstunde eines Champions
Die Formel 1 gastiert in Japan, wo der Niederländer vor zehn Jahren erstmals an einem Grand-Prix-Wochenende teilgenommen und beeindruckt hat
Triumph und Tragödie liegen im Sport sehr oft sehr nah beieinander, in der Formel 1 ganz besonders. Und manchmal sind es lediglich zwei Tage, die Leben und Tod voneinander trennen. So geschehen beim Grand Prix von Japan vor zehn Jahren. Im verregneten Rennen in Suzuka 2014 ist es eine Verkettung unglücklicher Umstände, die Jules Bianchi das Leben kosten. Der 25-jährige Franzose rutscht wegen Aquaplaning mit seinem MarussiaRennwagen von der Strecke, kracht gegen ein Bergungsfahrzeug und stirbt nach neunmonatigem Koma an den Spätfolgen. Bis heute ist dies der letzte Unfall mit tödlichem Ausgang in der Königsklasse seit den Crashs von Roland Ratzenberger und Ayrton Senna in Imola 1994.
Zwei Tage zuvor aber, im Training für den Grand Prix, sah die Formel 1 noch einen Stern aufgehen. Ein gewisser Max Verstappen nimmt im zarten Alter von 17 Jahren und drei Tagen zum ersten Mal an einem Formel-1-Wochenende teil.
Der Niederländer muss das Cockpit des Toro-Rosso-Boliden danach zwar wieder für Stammfahrer Jean-Éric Vergne räumen, doch die Eindrücke, die Verstappen in diesen 90 Minuten hinterlassen hat, sind so nachhaltig, dass er in der Saison darauf zur fixen Kraft beim Zweitteam von Red Bull aufsteigt.
Das Kalkül
Der Rest ist Motorsport-Geschichte, an deren Anfang Lobeshymnen angestimmt wurden, die an jenem Freitag im Oktober 2014 womöglich übertrieben klangen – die sich aber rückblickend vollinhaltlich bewahrheitet haben. „In Suzuka wurde uns bestätigt, was wir bereits wussten: Max war wettbewerbsfähig von der ersten Runde an“, erinnerte sich Red Bulls Motorsportberater Helmut Marko später an jene zukunftsweisende Ausfahrt.
Verstappen erzielte im Toro Rosso, einem Boliden aus dem hinteren Drittel des Klassements, auf der trickreichen und ultraschnellen Piste in Japan die zwölftbeste Zeit. Er war damit prompt schneller als etwa Teamkollege Daniil Kwjat, für den der Teenager wenig später zum Karriere-Entschleuniger werden sollte. Eineinhalb Jahre später wird Kwjat, mittlerweile Fahrer bei Red Bull Racing, aufgrund eines schwachen Saisonbeginns nach wenigen Rennen von Verstappen ersetzt. Und was tut der Niederländer nach der unverhofften Beförderung? Er gewinnt prompt sein erstes Formel-1-Rennen für das Einser-Team des Getränkekonzerns in Spanien. Allerspätestens zu diesem Zeitpunkt fühlte sich Helmut Marko bestätigt, nachdem er das Supertalent auch gegen interne Widerstände früh gefördert, gefordert und hochgezogen hatte. Der mittlerweile 80jährige Grazer blickt zurück: „Ich war immer der festen Überzeugung, dass wir mit ihm jemanden gefunden haben, der die neue Benchmark wird.“
Die frühen Einsatzzeiten in der Königsklasse waren entscheidend für die bis heute andauernde Erfolgsgeschichte von Verstappen bei Red Bull. Denn auch Mercedes hatte damals in Person von Teamchef Toto Wolff um die Steuerkünste des Ausnahmetalents gebuhlt. Was die Silberpfeile aber – anders als Red Bull mit seinem Talente-Team – nicht bieten konnten, war ein prompter Aufstieg von der Nachwuchsserie Formel 3 in die Formel 1. An der Spitze dominierten 2014 nämlich die Mercedes-Fahrer Lewis Hamilton und Nico Rosberg die Konkurrenz nach Belieben und – wie sich noch herausstellen sollte – auf viele Jahre. Eile war nicht geboten bei der deutschen Werksmannschaft.
Die Erkenntnisse
Eineinhalb Stunden soll Marko bei einem Treffen mit dem jungen Verstappen in Graz benötigt haben, um sich sicher zu sein: „Da sitzt ein sehr junger Mensch, aber auch jemand, der geistig mindestens drei oder fünf Jahre reifer ist.“
Als „komplett verrückt“wurden die Verantwortlichen in der Szene dennoch bezeichnet, einen gerade einmal 17-Jährigen ein rund 900 PS starkes Formel-1-Gefährt steuern zu lassen. Völlig unbedenklich im Fall von Verstappen fand dies jedenfalls der damalige Toro-Rosso-Teamchef und Fahrlehrer vieler späterer Formel-1-Stars, Franz Tost: „Junge Fahrer, die in die Formel 1 kommen, sind Passagiere, das Auto fährt mit ihnen. Nicht so Max, er hatte alles unter Kontrolle“, so der Tiroler.
Der Motorsport-Weltverband hatte dennoch genug gesehen. Er änderte in Folge die Superlizenz-Bestimmungen für junge, unerfahrene Piloten und schraubte das Alter nach oben. Damit war Verstappen schon mit seiner allerersten Ausfahrt ein Allzeitrekord sicher: jener des jüngsten Fahrers, der je an einem Grand-Prix-Wochenende teilgenommen hat.