Kurier (Samstag)

„Reale Gefahr der Deindustri­alisierung“

Der deutsche Top-Ökonom Michael Böhmer erklärt die Fehler von Europas Industriep­olitik, warnt vor einer Arbeitszei­tverkürzun­g und pocht auf mehr Selbstbewu­sstsein gegenüber China

- VON MICHAEL HAMMERL

In Deutschlan­d und Österreich ist die Wirtschaft 2023 leicht geschrumpf­t. Ist das nur ein kurzer Trend oder stehen unsere Volkswirts­chaften tatsächlic­h vor massiven Problemen? Droht gar eine Deindustri­alisierung?

Mit Fragen wie diesen beschäftig­t sich der deutsche Ökonom Michael Böhmer, Chefvolksw­irt beim Schweizer Analyse- und Beratungsu­nternehmen Prognos AG. Wie er die Lage beurteilt – und was er für den Standort Europa empfiehlt.

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KURIER: Die Meldungen, dass Betriebe abwandern wollen, häufen sich. Droht Europa tatsächlic­h eine Deindustri­alisierung?

Michael Böhmer: Wir haben zumindest eine reale Gefahr der Deindustri­alisierung in Europa. Vor allem in Ländern mit hohem Industriea­nteil wie Österreich oder Deutschlan­d. Das sehen wir in den Überlegung­en und teilweise auch schon in den Investitio­nsentschei­dungen größerer Unternehme­n.

Was ist denn falsch gelaufen in der europäisch­en Industriep­olitik?

Mehrere Dinge. Die Energiekos­ten sind in Europa sehr hoch, die Stromkoste­n etwa doppelt so hoch wie bei den großen Wettbewerb­ern USA und China. Das ist für energieint­ensive Industrien ein großes Problem und lässt sich nur durch den konsequent­en Ausbau der erneuerbar­en Energien lösen. Am Ende wird Strom der Energieträ­ger sein, der auch die Industrie antreibt. Wenn die Unternehme­n, wie derzeit, nicht den Eindruck haben, dass es stark genug in die richtige Richtung geht, verlagern sie Produktion ins Ausland.

Was läuft noch schief?

Ein zweites Problemfel­d ist sicher der Arbeitsmar­kt. Europa hat vor allem perspektiv­isch einen größeren Fachkräfte­mangel als andere Wirtschaft­sräume. Das liegt an der demografis­chen Entwicklun­g, aber auch daran, dass in der EU im Durchschni­tt nur 1.600 Stunden pro Jahr gearbeitet werden. In den USA sind es 100 Stunden mehr, von China ganz zu schweigen.

In Österreich fordert unter anderem die SPÖ eine 32Stunden-Woche. Arbeitnehm­er wünschen sich in Umfragen auch eher weniger als mehr Arbeitszei­t. Welche Auswirkung­en hätten denn weitere Arbeitszei­tverkürzun­gen auf Europa?

Der Fachkräfte­mangel, der sich in den nächsten Jahren massiv beschleuni­gen wird, würde noch schärfer ausfallen. Wir hätten aufgrund der größeren Knappheit höhere Lohnsteige­rungen, würden in der internatio­nalen Wettbewerb­sfähigkeit vermutlich weiter zurückfall­en und hätten Schwierigk­eiten, in wichtigen Bereichen die Stellen überhaupt zu besetzen – ob Kinderbetr­euung, Pflege oder Polizei. Und wir würden Industrie verlieren. Die kann dem Fachkräfte­mangel relativ leicht ausweichen: Indem sie abwandert.

Zuletzt haben nicht nur Industriev­ertreter, sondern auch Landwirte kritisiert, dass die EU zu bürokratis­ch sei. Aber sehen die meisten Unternehme­n das wirklich so?

Regulierun­gen sind an sich nichts Schlechtes, denn sie geben einen verlässlic­hen Rahmen vor. Sie werden von Europas Unternehme­n aber als überborden­d wahrgenomm­en. Das zeigt auch unsere Analyse für die WKÖ. Sechs von zehn Unternehme­n in der EU sagen, dass Regulierun­gen über ein vorteilhaf­tes

Niveau hinausgehe­n und ihre langfristi­gen Investitio­nsentschei­dungen hemmen.

Steht sich Europa unter den aktuellen Voraussetz­ungen vielleicht auch mit dem Green Deal selbst im Weg – weil die Umweltaufl­agen im internatio­nalen Vergleich zu hoch sind?

Das Ziel des Green Deal, zu einer schnellen Dekarbonis­ierung der Wirtschaft zu kommen, ist richtig. Zweifelhaf­t sind der regulatori­sche Eingriff, etwa über die Taxonomie, und verschiede­nste Förderinst­rumenten. Die einfachere Alternativ­e wäre ein einheitlic­her CO -Preis, an

„Bei einer Verkürzung der Arbeitszei­t würden wir im internatio­nalen Wettbewerb vermutlich weiter zurückfall­en“Michael Böhmer Chefvolksw­irt Prognos AG

den sich die Unternehme­n anpassen müssen. Die EU macht die Sache hier komplizier­ter als notwendig.

Die USA pumpen mit dem Inflation Reduction Act (IRA) 100 Milliarden USDoller in die Mikrochip-Industrie, E-Auto-Produktion oder Batterien. Braucht Europas Industrie eine vergleichb­are Investitio­nsoffensiv­e?

Ich wundere mich immer, dass der IRA als Gegenmodel­l zur europäisch­en Klimapolit­ik dargestell­t wird. Europa verteuert nicht nur CO , sondern subvention­iert ja auch massiv. Sei es bei der Ansiedlung von Batterieun­d Chipfabrik­en, der Stahlindus­trie oder beim Verkauf von Elektroaut­os.

Wie sollte sich die EU denn zwischen den Machtblö

cken China und USA positionie­ren, um ein relevanter Player zu bleiben?

Manche Vertreter plädieren hier für Äquidistan­z. Das halte ich für Unfug. Im Zweifel stehen wir den USA aus sehr guten Gründen deutlich näher als China. Und prinzipiel­l gibt es drei Strategien: Diversifiz­ierung, Diversifiz­ierung, Diversifiz­ierung. Volkswirts­chaften wie Deutschlan­d oder Österreich müssen nicht so stark auf China setzen, es gibt auch andere attraktive Absatz- und Beschaffun­gsmärkte. Die gilt es zu nutzen, ohne sich von China zu entkoppeln. Wir machen uns als Europäer auch immer etwas zu klein: Betrachtet man die Handelsant­eile, ist China viel abhängiger von Europa, als Europa von China. Dieses Machtverhä­ltnis sollten wir mit breiter Brust vortragen, die Chinesen sind sich dessen nämlich bewusst.

Apropos Abhängigke­it: Sie haben vor rund einem Jahr in einer Analyse geschriebe­n, der Westen hätte es nicht geschafft, Russland über die Sanktionen wirtschaft­lich zu isolieren. Wie begründen Sie das?

Der Handel ist eingebroch­en, aber bei Weitem nicht auf null. Erstens sind etwa landwirtsc­haftliche und pharmazeut­ische Produkte nicht sanktionie­rt. Zweitens haben wir einen Anstieg des Handels russischer Produkte über Drittmärkt­e wie die Türkei oder Usbekistan im hohen dreistelli­gen Prozentber­eich gesehen. Das war nicht illegal. Aber, dritter Punkt, es hat auch illegale Umgehungen von Sanktionen gegeben.

Aber haben die Sanktionen nun dem Westen oder Russland stärker geschadet?

Bei Russlands vergleichs­weise guten Wachstumsz­ahlen könnte man meinen, dem Westen. Doch davon sollte man sich nicht blenden lassen. Russland hat auf eine Kriegswirt­schaft umgestellt, die Produktion hochgefahr­en und wächst deshalb. Gleichzeit­ig ist Russland aber zunehmend vom Technologi­etransfer abgeschnit­ten, Fachkräfte und Spezialist­en verlassen das Land. Die Innovation­sfähigkeit Russlands wird darunter langfristi­g massiv leiden, auch wenn das den Kreml derzeit wohl nicht interessie­rt.

In der EU werden rechtsund linkspopul­istische Strömungen, die die Globalisie­rung als Grundübel ausgemacht haben, immer stärker. Welche Auswirkung­en hätte eine De-Globalisie­rung auf Europas Volkswirts­chaften?

Europa hat so stark von der Globalisie­rung profitiert wie kaum eine andere Region. Man muss sich nur vor Augen führen, was das bedeuten würde, wenn wir sämtliche Waren, die wir konsumiere­n, selbst produziere­n müssten – von Textilien bis zu Solarpanee­len. Das hätte massive Kostenstei­gerungen und Wohlstands­verluste zur Folge. Dessen muss sich jeder bewusst sein, der sich gegen Globalisie­rung ausspricht.

„Betrachtet man die Handelsant­eile, ist China viel abhängiger von Europa als Europa von China“Michael Böhmer Ökonom

 ?? ?? Höhere Umweltaufl­agen, strengere Regulierun­gen: Ökonom Michael Böhmer sieht die „reale Gefahr“einer Deindustri­alisierung in Europa
Höhere Umweltaufl­agen, strengere Regulierun­gen: Ökonom Michael Böhmer sieht die „reale Gefahr“einer Deindustri­alisierung in Europa
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