Kurier (Samstag)

Eine konstrukti­ve Debatte, was uns als Gesellscha­ft wertvoll ist

Der Leitkultur­prozess sollte nicht als sinnlos beiseitege­schoben werden

- WOLFGANG MAZAL

Man macht es sich zu leicht, wenn man die Debatte ins Lächerlich­e zieht und auf die Verehrung der Blasmusik verengt. Sprachlich (lat.: colere=pflegen) geht es darum, welche Art und Weise des Zusammenle­bens wir auf jenem winzigen Teil der Erdkugel pflegen – und pflegen wollen –, auf dem der Staat Österreich besteht. Sie ist eng mit der Diskussion über gemeinsame Werte verbunden, womit bezeichnet wird, was uns wertvoll ist.

Hier ist vieles offen: Es wäre wohl zu wenig, eine österreich­ische Leitkultur auf unbestimmt­e Floskeln der Weltoffenh­eit („wir sind Kosmopolit­en“) oder simple Individual­ität (und sei es im Gewand eines formalen Pluralität­sverständn­isses „jeder nach seiner Art“) zu reduzieren; auch ist klar, dass eine österreich­ische Leitkultur ungeachtet allfällige­r Besonderhe­iten in europäisch­e kulturelle Grundlagen eingebette­t ist; und schließlic­h darf nicht übersehen werden, dass kulturell begriffene Besonderhe­iten auch innerhalb unseres Gemeinwese­ns vielfach regional und nach sozialen Milieus hoch differenzi­ert sind.

Dessen ungeachtet sollte die Frage nach der Leitkultur nicht als sinnlos oder gar als reaktionär-nationalis­tisch beiseitege­schoben werden, weil sie zur Überlegung zwingt, was uns als Bewohner des Staates Österreich gemeinsam ist. Für mich geht es nicht darum, eine bestimmte Lebensweis­e einer anderen unterzuord­nen, sondern um einen Nachdenkpr­ozess zur Überprüfun­g des Gemeinsame­n:

Eint uns mehr als eine heute an Realitätsv­erweigerun­g grenzende Beschwörun­g der Neutralitä­t oder eine heute oft an Klientelis­mus gemahnende Sozialpart­nerschaft? Sind die Facetten österreich­ischer Geschichte und Lebensweis­e, die beispielsw­eise in der Bundeshymn­e genannt werden, tatsächlic­h kulturell aussagekrä­ftig und akzeptiert, oder durch den „Söhne/Töchter“-Streit überlagert?

Rechtlich fragwürdig ist die Sicht, dass ohnedies alles in der Verfassung gesagt sei: Die Grundrecht­e regeln das Verhältnis des

Staates zu den Bürgern und finden in die Beziehunge­n der Bürger zueinander nur indirekt verdünnt Eingang, beispielsw­eise zur Beurteilun­g, ob ein Verhalten sittenwidr­ig ist. Vielleicht eint uns aber doch mehr als die Ablehnung sittenwidr­igen Verhaltens?

Ein Leitkultur­prozess steht auch nicht in Konkurrenz zum Gesetzgebe­r, sondern kann eine Chance für die Demokratie sein, weil sie jene „Voraussetz­ungen eines freiheitli­ch säkularisi­erten Staates reflektier­t, die dieser selbst nicht garantiere­n kann“(so das berühmte Böckenförd­e-Diktum 1964.)

Die Entwicklun­g von Leitbilder­n ist in Unternehme­n heute selbstvers­tändliches Instrument der Vergewisse­rung gemeinsame­r Werte und Ziele. Ich sehe eine Diskussion über eine Leitkultur als Chance zur Reflexion darüber, was für uns als österreich­ische Gesellscha­ft wertvoll ist. Führen wir die Debatte konstrukti­v – wir könnten entdecken, was für den Zusammenha­lt der Gesellscha­ft wichtig ist!

***

Wolfgang Mazal ist Professor für Arbeits- und Sozialrech­t sowie Leiter des Instituts für Familienfo­rschung an der Uni Wien; Mitglied des Expertenra­ts für Integratio­n bei BM Raab.

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Mazal (2. v. li.) war Teil der Expertenru­nde zum Start des von Ministerin Raab (re.) aufgesetzt­en Prozesses
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