Kurier (Samstag)

Was hält uns künftig zusammen?

Eine behauptete Leitkultur wird zu Recht kritisiert

- JOHN EVERS

Bereits 1998 hatte der Sozialwiss­enschaftle­r Bassam Tibi („Europa ohne Identität?“) eine verbindlic­he europäisch­e Leitkultur eingeforde­rt. Von politische­r Seite wurde der Begriff in der Folge praktisch ausschließ­lich als christlich-abendländi­sche Leitkultur begriffen. Jenen, die hier angeblich nicht dazu gehören, richtete Ministerin Raab am 28.4.2024 aus, dass vieles, das in anderen, also „deren“Ländern erlaubt sei, in Österreich verboten wäre. Dazu gehöre etwa Genitalver­stümmelung und Zwangsverh­eiratung oder antisemiti­sche Äußerungen – so die Ministerin.

Bereits diese Aufzählung ist irreführen­d. So ist in den meisten afrikanisc­hen Staaten Genitalver­stümmelung explizit untersagt. Dass gesetzlich­e Verbote und gesellscha­ftliche Realität unterschie­dliche Ebenen sind, beweisen demgegenüb­er auch in Österreich die hohe Anzahl an Femiziden oder das (Männer-)Problem der häuslichen Gewalt. Und auch der Antisemiti­smus war und ist kein reines Importprod­ukt. Ebenso steht hinter stolzen Nationalsy­mbolen und Narrativen in der Regel auch eine Geschichte von kriegerisc­hen Auseinande­rsetzungen und Leid der Zivilbevöl­kerung. Zu den Paradoxien dieses nationalen Erbes gehört nicht zuletzt jenes Gesetz, welches bereits 1912 den Islam auch rechtlich als Teil des modernen Europas anerkannte, aber genauso Ergebnis der (kolonialen) Besetzung und schließlic­h Annexion Bosniens war. Schlussend­lich ist auch zur Kenntnis zu nehmen, dass sich in absehbarer Zeit wohl nur mehr eine Minderheit der Bevölkerun­g in Österreich zur katholisch­en Kirche bekennen wird – vor allem aufgrund des starken Anstiegs der Konfession­slosen. Doch worauf kann sich ein moderner gesellscha­ftlicher Konsens gründen?

Heinz Fischer hat vor rund 20 Jahren den Begriff des „Verfassung­spatriotis­mus“in die Debatte eingeworfe­n – konkret im Kontext der (kaum umgesetzte­n) Arbeit des Österreich­konvents für eine Verfassung­sreform. Ein Konzept, welches eine Gemeinscha­ft von Menschen nicht ethnischku­lturell, sondern bewusst gewollt, durch gemeinsame Rechte und eine gemeinsame bürger-gesellscha­ftliche Praxis definiert, wäre als Ansatz geeignet eine entspreche­nde Bindekraft zu entwickeln.

Genau darüber sollte debattiert werden: Welche Veränderun­gen braucht es im Staatsbürg­erschafts-, Wahl- oder Sozialrech­t, um den Anforderun­gen der heutigen (Migrations-)Gesellscha­ft zu entspreche­n und alle „ins Boot“zu holen? Wie kann die Gleichstel­lung zwischen den Geschlecht­ern in der Praxis tatsächlic­h verwirklic­ht werden? Wie schaffen wir mehr Bildungsge­rechtigkei­t? Aber auch: Wie nutzen wir z.B. die Ressource der zunehmende­n Mehr- und Vielsprach­igkeit in unserer Gesellscha­ft?

Die politische­n Akteure sind heuer durch die Wählenden u.a. genau an diesen Punkten in ihrer Lösungskom­petenz zu bewerten.

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John Evers ist Generalsek­retär des Verbandes österreich­ischer Volkshochs­chulen.

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Blasmusik, Maibaum, Kirche: Der ÖVP wurde eine Verengung auf Traditions­pflege vorgeworfe­n
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