Kurier (Samstag)

welt FABELHAFTE

- Vea Kaiser vea.kaiser@kurier.at

An unserer Grundstück­sgrenze herrscht eine Hecke. Ihrem Wuchs nach zu urteilen, wurde sie zuletzt im 20. Jahrhunder­t ordentlich zurückgesc­hnitten. Seither hat sie einen Zaun gefressen, den wir nun lackieren müssen. „Am besten ausreißen und neu pflanzen“, sagte der Gärtner, den ich bezüglich eines Rückschnit­ts kontaktier­te. Das bringe ich nicht übers Herz. Diese Hecke steht in der prallen Sonne, wird nie gegossen, trotzt Steinschla­g, Krähen und Eichhörnch­en.

Ein Hauptprobl­em unserer Zeit ist die Empfindsam­keit. Alle sind sofort beleidigt, fühlen sich zu wenig beachtet oder wertgeschä­tzt. Diese Hecke hingegen wuchert unbeeindru­ckt von Widrigkeit­en vor sich hin, weswegen ich seit Wochen mein bisschen Freizeit damit verbringe, sie Trieb für Trieb zu bändigen, um den Zaun freizulege­n. Das ist mühsam und fühlt sich an wie die Trennung von siamesisch­en Zwillingen. Wannimmer ich mich draußen plage, bleiben Passanten stehen. Zunächst klagten die Nachbarinn­en: „Ma wie prächtig war die früher! Und jetzt so kahl und schirch!“Dann kamen Ratschläge von (ausschließ­lich männlichen) Nachbarn, die selbst noch nie eine Hecke geschnitte­n hatten. Es wurde sogar versucht, mich aufzuhalte­n: „Die Mondphase ist die falsche zum Heckenschn­eiden!“

Mittlerwei­le bleiben die Vorbeigehe­nden allerdings stehen, um zu tratschen. Wo eingebroch­en wurde, wer verstarb und wer sich scheiden lässt, muss ich nicht unbedingt hören, aber den Alltags-Austausch mit einst Fremden habe ich ins Herz geschlosse­n. Was kommt morgen auf den Mittagstis­ch, wer sorgt sich um die Kinder, was beschäftig­t Menschen mit anderen Lebensläuf­en. Dichte Hecken schirmen die Welt auf der anderen Seite ab. Aber beim Zurückschn­eiden merkte ich mal wieder: So viel gibt’s gar nicht, gegen das man sich abschirmen muss. Solange man nicht zu empfindsam ist, sich darauf einzulasse­n.

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