Kurier (Samstag)

„Der neue Arbeitspla­tz ist die Zeitzone“

Arbeitswel­t. Der „Future of Work“-Trendscout Raphael Gielgen erklärt, warum sich alle Abteilunge­n in Firmen auflösen werden und warum Manager wieder lernen sollten, einen Blick in die Zukunft zu werfen

- VON JENNIFER CORAZZA

Raphael Gielgen arbeitet für vitra, ein Familienun­ternehmen, das sich auf Wohn- und Büromöbel spezialisi­ert hat. Doch Gielgen interessie­ren nicht die neuesten Designs, stattdesse­n reist er als „Future of Work“-Trendscout um die Welt, besucht mehr als 100 Unternehme­n und Universitä­ten pro Jahr. Sein Ziel: zu erfahren, wie wir in Zukunft arbeiten werden. Darauf hat er Antworten gefunden.

KURIER: Sie reisen um die Welt, um die Zukunft der Arbeit besser zu verstehen. Was machen Sie da genau?

Raphael Gielgen: Ichschauem­ir die Epizentren der Veränderun­g an, gehe ins Auge des Orkans. Spreche beispielsw­eise mit Microsoft, wie sie eine Infrastruk­tur für Künstliche Intelligen­z aufbauen. Wie viel Geld sie investiere­n,wasderenPl­änesind.Ichgehe also zu wesentlich­en Akteuren, um aus erster Hand zu verstehen:Wasmachend­ieda?

Welche Firma hat Sie zuletzt in Staunen versetzt?

Porsche hat ein physisches Archiv, in dem alle Autos, die jemals produziert wurden oder Rennen gefahren sind, gesammelt sind. Geht man dort hinein, betritt man quasi das große Gedächtnis von Porsche. Ich habe gespürt, wie viel Kraft die Historie hat. Durch die Körperlich­keit des Autos sieht man, wie sich Sachen entwickelt haben. Aber dann sieht man auch, wie Designer und Entwickler dort ein und ausgehen und sich die Frage stellen, wie man diese Autos in die heutige Zeit transferie­ren könnte. Nicht um irgendetwa­s vintagemäß­iges zu machen, das wäre trivial, sondern als würden sie ihr großes Gedächtnis

fragen. Da war ich ein bisschen sprachlos.

Gibt es einen Trend in der Arbeitswel­t, den Sie sicher eintreten sehen?

Abteilunge­n werden sich auflösen. Die Einzigen, die überleben werden, sind die regulierte­n: Finanzen und Recht. Es gibt zu wenige Menschen, die künftig arbeiten. Um diese bestmöglic­h einzusetze­n, müssen sie agil sein, ihre Fähigkeite­n in vier unterschie­dliche Projekte einbringen. Ähnlich wie beim Gaming: Man zockt auch immer in unterschie­dlichen Gruppen und nicht nur in einer.

Haben das schon viele Firmen umgesetzt?

Es gibt erste Unternehme­n mit viel Innovation­sdruck, die das schon machen. Das nennt man crossfunkt­ionale Teams. Das hat auch damit zu tun, dass wir von einer wissensbas­ierten Ökonomie in eine fähigkeits­basierte Ökonomie gehen. Da ist das Erlangen von neuen Fähigkeite­n wichtiger als das Wissen selbst. Die Lerngeschw­indigkeit nimmt zu.

Flexible Teams haben auch den Vorteil, internatio­naler zu werden.

Wir werden am Ende des Jahrzehnts Menschen haben, die zu 25 oder 30 Prozent in der Zeitzone Europa arbeiten und eben nicht nur in Wien. Die Postleitza­hl spielt keine Rolle mehr. Bis dahin hat das Steuerrech­t das reguliert. Der Arbeitsort ist die Zeitzone, da haben wir einen großen Vorteil gegenüber Asien oder den USA, die viel größere Zeitunters­chiede haben.

Wie sieht es mit den Arbeitszei­ten per se aus?

Wir werden soziale Debatten – nehmen wir die Vier-Tage-Woche, die alle so geil finden – nicht mehr führen. Denn hat man selbst vier Tage, hat auch die Kindergärt­nerin vier Tage und die Hausärztin und der Busfahrer und dann findet drei Tage lang nichts statt. So funktionie­rt die Welt nicht. Wir werden feststelle­n, dass die Ich-Perspektiv­e eben nicht die gesellscha­ftliche Perspektiv­e sein kann.

Woraus ziehen Sie diese Schlüsse?

Ich bin weder Hellseher noch Forscher. Aber die Summe der Einblicke, die ich aus ganz verschiede­nen Domänen sammle, dann übereinand­erlege und kombiniere, geben mir das Gefühl, dass das eine logische Konsequenz ist.

Wir wissen vom demografis­chen Wandel und dass wir flexibler werden müssen. Warum machen wir es nicht? Ihr habt diesen wunderbare­n Österreich­er Wolf Lotter, der in einem Buch schrieb: Noch nie haben wir im reichen Westen so viel gewusst, so viel gelernt und so wenig verstanden. Im Verstehen sind wir ziemlich mies, das Bildungswe­sen hat uns in feste Denk- und Handelsmus­ter verdammt. Selbst wenn man in eine Firma reingeht: Das Onboarding verläuft nach einem Plan. Und nach dem wird man konditioni­ert. In der Zukunft braucht es viel mehr Anpassungs­fähigkeit. Eine Führungskr­aft war früher wie ein Kurarzt, der sich die Zeit nehmen konnte, Tee zu trinken und dann erst in die Patientena­kte zu schauen. Heute ist er in der Ambulanzst­ation im Krankenhau­s. Ob man die Dynamik gut oder schlecht findet, nützt nichts.

Was müssen Firmen tun, um schneller zu werden?

Amy Webb, eine bekannte Futuristin, hat jüngst in der Harvard Business Review einen Bericht veröffentl­icht, in dem sie schrieb: Man hat irgendwann Strategie und Vorschau getrennt. Man ist nur mehr die Strategie gefahren und wundert sich, dass die Welt jetzt eine andere ist, und das Geschäft nicht mehr funktionie­rt. Wir hatten ein stabiles System – Ressourcen­verbrauch spielte keine Rolle, Energie kostete kein Geld, die Globalisie­rung verlief friedlich. Die Welt war eine große Party. Jetzt aber sind wir so stark mit Veränderun­g konfrontie­rt, dass die Firma wieder mehr Zeit in ihre Vorschau investiere­n muss. Und sich die Frage stellt: Wie findet mein Unternehme­n in fünf oder zehn Jahren statt? Oder: Was bleibt von meiner Arbeit in fünf oder zehn Jahren übrig? Ist dieser Muskel einmal aktiviert, hat man eine innere Unruhe und merkt: Da ist was dran.

 ?? ?? Gielgen selbst lebt in Bayern, Regensburg. Beruflich ist er in Asien, Europa und den USA unterwegs und besucht 100 Firmen im Jahr
Gielgen selbst lebt in Bayern, Regensburg. Beruflich ist er in Asien, Europa und den USA unterwegs und besucht 100 Firmen im Jahr
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Raphael Gielgen ist „Future of Work“-Trendscout bei vitra

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