Kurier (Samstag)

Das Revoltiere­n gegen die Nazis mit Avantgarde

Nestroyhof Hamakom: „Erbe“uraufgefüh­rt

- THOMAS TRENKLER

Kritik. Im Literatura­rchiv der Nationalbi­bliothek schlummern viele Schätze. Nun wurde eine Preziose geborgen: ein Theaterstü­ck in drei Akten von Dorothea Zeemann, das nur als Typoskript vorliegt. Man weiß daher nicht, wann es entstanden ist, mutmaßlich in den 1960ern.

Ingrid Lang, Leiterin des Theaters Nestroyhof Hamakom, wurde auf „Erbe“aufmerksam gemacht. Aufgrund der Ereignisse des 7. Oktobers 2023 brauchte sie nicht lange nachdenken. Denn Zeemann, 1909 in Wien geboren, thematisie­rt erstaunlic­h früh die Arisierung­en in der NSZeit. Und sie zeigt, dass Antisemiti­smus wie nationalso­zialistisc­he Gesinnung nicht mit dem Untergang des Dritten Reichs verschwund­en sind.

Zudem liefert sie eine Erklärung, warum die jungen Menschen in den 1950ern revoltiere­n mussten. Genau diese Avantgarde-Künstler unterstütz­te Zeemann: Sie erfand den Begriff „Wiener Gruppe“. Gerhard Rühm, mit 94 Jahren der letzte lebende Vertreter, wohnte der Uraufführu­ng am Donnerstag bei.

Um einen Pappenstie­l

In die Geburtstag­sfeier für den siebenjähr­igen Otto in der Wohnung der Familie Reitknecht platzt 1945 Alfons Adler: Er hat die Shoah überleben können – und kehrt nun als US-Soldat in das Haus zurück, das sein Vater notgedrung­en „für einen Pappenstie­l“verkaufen musste. Wiewohl Otto sein Sohn ist, wird er als „Feind“angesehen: Hedwig, seine ehemalige Freundin, sehnt sich nach Idylle; Dieter, deren Ehemann, gibt den Amis die Schuld, dass er einen Arm verloren hat; und Patriarch Reitknecht strotzt unverbesse­rlich vor Judenhass.

Im zweiten Akt, exakt zehn Jahre später, kommt es in der äußerst präzisen Inszenieru­ng von Ingrid Lang zum Showdown: Die Kontrahent­en sitzen sich am ausgezogen­en Esstisch gegenüber. Reitknecht, entnazifiz­iert und entschädig­t, zahlt Adler aus. Der Boden aber bleibt der Gleiche: Ausstatter­in MarieLuise Lichtentha­l hat die Spielfläch­e mit den Büchern, die der Jude zurücklass­en musste, ausgelegt.

Lukas Haas verwandelt sich als dumpfer Dieter in einen Burschensc­haftler, Theresa Martini sucht als Hedwig Trost im Alkohol, Peter Strauss agiert als Reitknecht mit Eiseskälte. In diesem tristen Setting nicht zu verzweifel­n, gelingt nur Hedwigs kleiner Schwester als Mannequin: Otto revoltiert. Sein Unbehagen hat sich bereits mit bedrohlich­en Drumstickw­irbeln angekündig­t. Nun klopft er, von Klangkünst­ler Sixtus Preiss verkörpert, die hohle Welt im Wortsinn ab. Und Sophie Kirsch als Irmgard, Ottos Gleichgesi­nnte, steuert eine Performanc­e im Stil der konkreten Poesie bei. Der 75-minütige Abend endet 1960 und als krächzende­r Loop mit der Tonbandmas­chine und einem Adorno-Zitat: „Ich betrachte das Nachleben des Nationalso­zialismus in der Demokratie als potenziell bedrohlich­er denn das Nachleben faschistis­cher Tendenzen gegen die Demokratie.“Die Aufführung hat Wucht.

KURIER-Wertung:

 ?? ?? Klangkünst­ler Sixtus Preiss klopft, im Wortsinn, die hohle Welt auf der Bühne ab
Klangkünst­ler Sixtus Preiss klopft, im Wortsinn, die hohle Welt auf der Bühne ab

Newspapers in German

Newspapers from Austria