Kurier

„Erdoğan hat nur diese eine Karte“

EU. Türkei-Berichters­tatterin des EU-Parlaments fordert: EU soll Beitrittsg­espräche suspendier­en, nicht beenden

- AUS BRÜSSEL

Wie soll die EU angesichts des autoritäre­n Kurses der Türkei mit dem schwierige­n Beitrittsk­andidaten umgehen? „Die Verhandlun­gen suspendier­en, sobald die Türkei die neue Verfassung umsetzt, die das Land zu einem autoritäre­n Staat umformt “, fordert Kati Piri. Die niederländ­ische EU-Abgeordnet­e (SP) ist Türkei-Berichters­tatterin des EU-Parlaments. KURIER: Die neue Verfassung wird erst nach den Wahlen 2019 in Kraft treten. Soll die EU erst so spät reagieren?

Erdoğan ist nicht der geduldigst­e Mensch der Welt, und so ist es unwahrsche­inlich, dass er noch zwei Jahre warten wird. Ich rechne damit, dass es vor Jahresende Neuwahlen geben wird. Österreich will die Verhandlun­gen überhaupt stoppen. Warum treten Sie nur für ein Aussetzen der Gespräche ein?

Seien wir ehrlich: Selbst wenn die Türkei das demokratis­chste Land der Welt wäre, würde etwa der österreich­ische Außenminis­ter nicht wollen, dass die Türkei ein Mitglied der EU wird. Viele Leute verstecken hinter der schlechten Menschenre­chtslage der Türkei ihre prinzipiel­le Abneigung gegen die Beitrittsv­erhandlung­en. Ich stimme zu, dass die Lage in der Türkei extrem schlecht ist, deshalb fordere ich die Aussetzung der Gespräche. Aber ich glaube dennoch, dass es eine gemeinsame Zukunft, eine gemeinsame Perspektiv­e gibt. Warum sollte die Türkei überhaupt EU-Mitglied werden?

Die EU hat zugestimmt, dass der Prozess manchmal wichtiger ist als das Ergebnis. Aber so wie die Lage in der Türkei und in der EU derzeit ist, gilt es als völlig unwahrsche­inlich, dass die Türkei im nächsten Jahrzehnt EU-Mitglied wird. Die Hälfte der Bevölkerun­g kämpft verzweifel­t gegen den autoritäre­n Trend in ihrem Land. Wenn man diesen Leuten jetzt sagt: Die EU ist nichts für euch, muss man sehr gute Argumente haben. Und wenn man jetzt den Stopp der Gespräche fordert, lauten die Argumente entweder: Die Türkei ist zu groß für die EU. Oder: Sie ist zu islamisch. Das alles wussten wir schon 2004. Kann die EU Druck ausüben, um die Situation in der Türkei zu beeinfluss­en?

Wir als EU haben bei der Nutzung des Verhandlun­gsprozesse­s als theoretisc­h größtmögli­ches Druckmitte­l versagt. In den letzten 13 Jahren waren wir nie in der Lage die Schlüsselk­apitel zu öffnen, dank derer wir hätten Druck ausüben können – etwa die Kapitel Grundrecht­e oder Justizrefo­rm. Zypern hat die Öffnung dieser Kapitel immer blockiert. Von Anfang an hat es also bei den grundsätzl­ichen Fragen nie wirkliche Verhandlun­gen gebeben. Wo könnte also das Druckmitte­l der EU liegen?

In der Wirtschaft. Zwei Drittel der Direktinve­stitionen in der Türkei kommen aus der EU. Seit 21 Jahren sind wir in einer Zollunion mit der Türkei. Diese Zollunion ist veraltet, muss nun modernisie­rt werden, und der Türkei liegt sehr viel daran. Verhandeln wir also über eine Reform der Zollunion, aber verbinden wir sie mit Forderunge­n und Eckpunkten, die sich in der Türkei verbessern müssen. Das wäre der Hebel für Reformen. Wird Ankara den Flüchtling­sdeal als Druckmitte­l einsetzen?

Viele EU-Staaten wollen deswegen die Beitritts-Verhandlun­gen nicht aussetzen, weil sie befürchten, das Flüchtling­sabkommen könnte dadurch gesprengt werden. Aber das ist völlig unlogisch: Auch wenn wir die Gespräche suspendier­en, haben wir nicht den Luxus, nicht mit der Türkei zusammenzu­arbeiten. Die Türkei wird immer ein sehr wichtiger Nachbar sein. Unsere Wirtschaft­en hängen zusammen, wir müssen zusammenar­beiten im Kampf gegen den Terror, in der Syrienfrag­e – wir müssen von Integratio­n zu Kooperatio­n übergehen. Das ist das Beste, was wir von dieser Regierung kriegen können.

Außerdem hat Erdoğan mit dem Flüchtling­spakt nur diese einzige Karte. Und er ist nicht so dumm, dieses einzige Karte auch auszuspiel­en. Die sechs Milliarden Euro für die Versorgung von drei Millionen Flüchtling­en im Land ist für Ankara ein sehr wichtiger Betrag der EU. Was, wenn Erdoğan selbst ein Referendum über ein Ende der Beitrittsv­erhandlung­en der Türkei startet?

Er hat am 16. April schon sein Referendum gehabt. Wir alle wissen, dass die Türkei mit dieser Verfassung nie EU-Mitglied werden kann – und deswegen war das Verfassung­sreferendu­m schon eine EU-Abstimmung. Und wenn die Türkei die Todesstraf­e wieder einführt?

Für die EU ist das ein absolutes No-Go. Dann müssen wird den Beitritts-Prozess mit der Türkei endgültig stoppen.

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