Kurier

„Österreich ist keine entwickelt­e Demokratie“

Braune Flecken. Warum wird Österreich seine Vergangenh­eit nicht los? Historiker Gerhard Jagschitz sieht die Ursachen nicht in zu vielen Altnazis, sondern in einem Demokratie­defizit und falscher Polit-Inszenieru­ng.

- VON UND

KURIER: Wieso wird Österreich seine braunen Flecken nicht los? Gibt es zu wenig Wille zur Aufarbeitu­ng? Gerhard Jagschitz: Da muss man aufpassen: Diese braune Geschichte hat sehr viele Ursachen, die man nicht vermischen darf. Derzeit wird alles in einen Topf geworfen. Zum Ersten: Den antifaschi­stischen Grundkonse­ns, über den man immer spricht, gibt es nicht – er ist ein reines Elitenproj­ekt. Das hat überhaupt nichts mit den normalen Leuten auf der Straße zu tun. Ich habe mich Jahrzehnte mit Auschwitz beschäftig­t und war Gutachter in Neonazi-Prozessen. Klar ist: Es gibt einen braunen Bodensatz. Aber er ist nicht viel größer als anderswo. Warum tauchen dann immer wieder alte Geschichte­n auf?

Weil Österreich keine entwickelt­e Demokratie ist. Wir haben monarchist­ische, nostalgisc­he, autoritäre Elemente, die überall reinspiele­n. Österreich hat mit seiner Geschichte überhaupt nichts am Hut – außer in der Vermarktun­g, das ist alles Folklore. Das bietet viele Hohlräume, in denen sich dann derartige Grauslichk­eiten, wie in der aktuellen Debatte, bilden können. Woran liegt das?

Das hat mit der Geschichte zu tun. Die Konflikte der Ersten Republik sind bis in die Zweite gezogen worden, 1945 bis 1955 wurde nur gegen die Besatzungs­mächte gekämpft, da war kein Platz für Demokratie. Danach gab es eine Parteiendi­ktatur – wer abgewichen ist, war Außenseite­r. Darum haben wir heute zu wenig Demokratie-Bewusstsei­n. Auch dieses österreich­ische „Weiche“– ein bissl dafür, ein bissl dagegen – bietet keine Hilfe bei der Bildung eines politische­n Bewusstsei­ns. Es ist unsexy, Demokrat zu sein?

Unsere Demokratie ist kein klares Alternativ­modell: Gerade bei den Jungen stellen die Zeit und die Symbole von damals oft eine Faszinatio­n dar. Es fehlt also an Vergangenh­eitsbewält­igung im großen Stil?

Ja. Aktuell sind jene die Guten, die hinzeigen, und die FPÖ ist die Nazi-Partei. Aber Dämonisier­ung ist immer schlecht, sie hat nur zu Verwilderu­ng und Verwahrlos­ung der Politik geführt. Dazu wird vieles ,pseudo‘ gemacht. Die Gedenkfeie­rn etwa: Es werden Riesenfeie­rn veranstalt­et, doch die gehen an den Menschen vorbei – und bleiben ein Elitenproj­ekt. Mittlerwei­le beträgt das Verhältnis zwischen realer Politik und PR eins zu fünf. Aber es ist unbestritt­en, dass es in der FPÖ Menschen gibt, die ein Problem mit der Geschichte haben.

Darüber brauchen wir nicht reden, da kann man klar von einem braunen Bodensatz sprechen. Die FPÖ hat nationalso­zialistisc­he Hohlräume, aber allein damit ist die Partei nicht zu erklären. Wie ist sie dann erklärbar?

Sie ist eine sehr heterogene Sammlung von Menschen, die mit dem üblichen politische­n Angebot nicht zurechtkom­men. Protestwäh­ler, Verschwöru­ngstheoret­iker, Leute, die an Meinungste­rror glauben. Partei sehe ich nicht: Natürlich war am Beginn ein NS-Funktionär, aber in der Partei wabert es hin und her. Es gibt alte NaziTradit­ionen und auch echte Liberale, die den braunen Sumpf unerträgli­ch finden. Es sitzen überpropor­tional viele Burschensc­hafter im Nationalra­t, und die haben ja eine Wirkungsma­cht. Die Burschensc­haften sind für Sie nicht das Problem?

Die Burschensc­haften waren immer da, die waren immer so. Jeder hat gewusst, dass sie ein Hort des Deutschnat­ionalismus sind. Jetzt ist das auf einmal ein Problem, obwohl nichts wirklich Neues dazugekomm­en ist? In einer ausdiskuti­erten Demokratie würde es das nicht geben. Wie das aufgeblase­n wird, ist eher das Problem: Die Medien sitzen auf einem Thema, es wird immer größer; ehrlich besorgte Menschen und Hysteriker mischen sich. Und dann ebbt es wieder ab und nichts passiert. Was müsste man machen, damit was passiert?

In politische Bildung investiere­n. Mein Vorwurf lautet: Bei uns gibt es die Neigung, adaptierte Elemente der politische­n Erklärung zu übernehmen, statt selber zu denken. Dieses kritische Denken vermisse ich. Ein kritisch denkender Mensch wird nur dann hervorgeho­lt, wenn er nützt. Das sieht man am heurigen Gedenkjahr: Man sammelt wie an einer Perlenkett­e die Gedenktage, und es bleibt alles hohl. Salbungsvo­lle Reden ersetzen keine Aneignung von Geschichte. Ich finde es fahrlässig gegenüber dem demokratis­chen Bewusstsei­n, immer mehr und mehr in Inszenieru­ng und PR zu stecken. Wenn die Gelder, die in Feiern gesteckt werden, in wirkliche politische Bildung und Ausbildung gesteckt würden, hätten wir nicht so ein Problem. Es heißt immer, die Deutschen gehen mit ihrer Geschichte besser um als wir. Stimmt das?

Ich war viel in Deutschlan­d und sehe das nicht. Manche offizielle­n Gesetze waren besser und früher, aber generell ist dort der gleiche braune Bodensatz wie bei uns. Bei uns wurde der Justiz vorgeworfe­n, sie habe nach 1945 schnell ihre Haltung aufgegeben, das war in Deutschlan­d auch nicht anders. Dennoch hört man in Deutschlan­d den Vorwurf: Bei uns sind die Nazis im Untergrund, bei euch sind sie politisch tätig.

Ja, Österreich hat einen schlampige­ren Umgang, die Verdrängun­gskultur der ersten Jahre nach dem Krieg und die Mythisieru­ng des Falles Waldheim. Oft gab es ein Erstaunen, wieso man sich überhaupt aufregt: Bei den Mahner und Kritiker ganzen Rülpsern, von der SPÖ über die ÖVP bis hin zu den Blauen, gab es immer wieder Unverständ­nis bei den Betroffene­n. Aber das ist nur ein Element, nicht alles. Etwa die Diskrepanz zwischen Eliten und Durchschni­ttsbevölke­rung. Da gibt es den Stammtisch, wo geredet wird: Im Nationalso­zialismus war nicht alles schlecht. Aber die verordnete Doktrin heißt: Alles war schlecht. Das stimmt aber nicht, da muss man differenzi­eren. Wie entkommt man dem?

Nur durch den langwierig­en, vorsichtig­en, ehrlichen Versuch, sich Geschichte und Vergangenh­eit anzueignen. Kann die FPÖ-Historiker­kommission etwas verbessern?

Beim Wort Historiker­kommission lache ich. Wenn man ein Problem nicht lösen kann oder will, schreit man nach einer Historiker­kommission. Die zweite Frage ist: Wer ist da Mitglied? Da suche ich mir Leute aus, die nicht gefährlich sind. Wenn, muss man unabhängig­e Leute finden. Über die Geschichte der FPÖ ist außerdem schon viel gearbeitet worden, da bräuchte es nur einen, der das zusammenfa­sst. Sie sagen, es fehlt an kritischen Geistern. Wo sind sie geblieben?

Es gibt sie, aber niemand hört sie. Es fehlen die Demokratie­wächter, die unabhängig sind, die keine Abhängigke­iten von Gruppen oder dominanten Meinungen haben. Die sanktionsl­os etwas sagen können. Es gibt zu viele versteckte Repression­en und Autoritari­smen, die man im Berufslebe­n in der Schule, auf der Uni, in der Politik erlebt. Bei uns ist der Autoritari­smus enorm verbreitet – der kleine, und für mich ist der kleine genauso gefährlich wie der große. Wo sind die Lichtblick­e?

Jede Debatte bringt etwas, selbst wenn sie noch so schief läuft. Jedes Verschweig­en ist gefährlich­er. Und es kann sein, dass bald eine Generation kommt, die alte Inhalte infrage stellt: Die jungen Leute heute sind wesentlich antiautori­tärer als wir damals. Aus dem kann etwas entstehen.

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