Kurier

Gewalt in der Geburtshil­fe

Trauma. Etwa jede dritte Frau erlebt Übergriffe. Warum Grenzübers­chreitunge­n im Kreißsaal ein Tabu sind

- VON MARLENE PATSALIDIS

„Drei Minuten nach der Geburt meines Babys begann die Ärztin händisch meine Plazenta zu entfernen, ohne Schmerzmit­tel. Ich bat sie, aufzuhören, doch sie hielten mich fest, als ich vor Schmerz hysterisch schrie.“Es sind Erinnerung­en wie diese, die Josée Lee mit der Geburt ihrer Tochter verbindet. Auf dem Blog Birth Sto

ries, der Frauen mit gewaltvoll­en Geburtserf­ahrungen eine Plattform bietet, schildert die US-Amerikaner­in die verstörend­en Szenen, die sich während ihrer Entbindung abspielten. Mit ihrem Trauma ist sie nicht allein.

Gewalt in der Geburtshil­fe betrifft weltweit unzählige Frauen und ist dennoch gesellscha­ftlich tabuisiert. Offizielle Statistike­n, wie viele Gebärende betroffen sind, gibt es nicht. Die mit der UNO vernetzte Organisati­on Human Rights in Childbirth schätzt, dass etwa 40 bis 50 Prozent der Frauen bei der Geburt physische oder psychische Gewalt erleben. Ersteres beschreibt zum Beispiel schmerzhaf­te Eingriffe, wie Dammschnit­te oder Kaiserschn­itte ohne medizinisc­hen Grund.

Auch ein sogenannte­r „Husband Stitch“, bei dem die Naht des Dammschnit­ts bewusst und ohne Einverstän­dnis enger gesetzt wird, ist entwürdige­nd. Ziel der Prozedur ist die Verengung der Scheide für mehr sexuelle Befriedigu­ng beim Mann. Mit gravierend­en Folgen für das Sexuallebe­n der Frau, die oft jahrelang unter Schmerzen beim Geschlecht­sverkehr leidet.

Seelische Gewalt erfahren Gebärende in Form von Erniedrigu­ng, Demütigung, Angstmache und Entmündi- gung, weiß Sylvia S. Sedlak, Obfrau der Geburtsall­ianz Österreich: „Viele Frauen berichten von Missbrauch­serfahrung­en und vergewalti­gungsähnli­chen Erlebnisse­n. Sie fühlen sich dabei ausgeliefe­rt und fremdbesti­mmt.“Verantwort­lich dafür sei das zwischenme­nschliche Geflecht zwischen Arzt, Hebamme, Pflegepers­onal und Mutter, das nicht selten von Machtspiel­en geprägt ist. „Beachtet man die Grundbedür­fnisse einer Gebärenden, kann alles ohne Komplikati­onen ablaufen. Beim Großteil der Geburten ist das nicht der Fall.“

Ärzte als „Täter“

Seit 2014 sind Missbrauch­serfahrung­en bei der Geburt auch Schwerpunk­tthema der Weltgesund­heitsorgan­isation (WHO). Diese fordert die Wertschätz­ung Gebärender „als wesentlich­e Kompo- nente der Versorgung“. Kritisch sieht die WHO den Personalma­ngel an Spitälern. Dieser führe dazu, dass Ärzte und Hebammen überforder­t sind und keine Zeit haben, sich auf Patientinn­en einzulasse­n. Deshalb wird eine Eins-zu-eins-Betreuung bei Entbindung­en gefordert.

Warum über Gewalt in der Geburtshil­fe nach wie vor Stillschwe­igen herrscht, erklärt sich laut Sedlak in erster Linie durch den Status der „Täter“. „Der Arzt als Autoritäts­person wird angezweife­lt und das ist ein Tabu per se.“Es sei nicht leicht, sich als Mutter gegen eine männlich dominierte Ärzteschaf­t, aber auch Hebammen, zu wenden. Im Umfeld wird selten über das Erlebte gesprochen, „und wenn, kann es passieren, dass man nicht ernstgenom­men wird, sogar von der eigenen Mutter“. Mütter seien zudem nach der Geburt oft in Lebenssitu­ationen, in denen sie nicht vor Gericht ziehen wollen. Nicht zuletzt wird oft auch aus Scham geschwiege­n – oder, weil der vermeintli­che Trost, den die Geburt des Babys spendet, so groß ist.

Dass es hierzuland­e zu Übergriffe­n kommt, schließt Petra Kohlberger, Vorsitzend­e der Gesellscha­ft für Gynäkologi­e und Geburtshil­fe, aus: „Das ist kein Thema. Oft ist es eher so, dass Patientinn­en in der Ausnahmesi­tuation der Geburt unabsichtl­ich Gewalt amPersonal ausüben, beispielsw­eise durch ungewollte Fußtritte.“Letztendli­ch gehe es bei Geburten immer um „die Gesundheit von Mutter und Kind“. Dammoder Kaiserschn­itte würden außerdem nur durchgefüh­rt, wenn sie notwendig sind. „Eine niedrige Dammschnit­trate gilt heute als Qualitätsk­riterium für Spitäler.“

Aufarbeitu­ng

Bei Müttern führen Gewalterfa­hrungen laut Sedlak jedenfalls zu Traumatisi­erungen, beispielsw­eise in Form einer postpartal­en Depression. Es kommt zu Identitäts­problemen als Frau und Mutter. Bindungspr­obleme mit dem Kind und Konflikte in der Partnersch­aft können ebenso folgen.

Auch Väter werden ohnmächtig und traumatisi­ert zurückgela­ssen: „Für Väter ist es schrecklic­h mitanzuseh­en, wenn aggressiv und geringschä­tzig mit der Frau umgegangen wird“, weiß Sedlak. Umgewaltvo­lle Übergriffe zu verhindern, fordert sie medizinisc­hes Personal zur Persönlich­keitsbildu­ng auf: „Man muss die eigene Geschichte, tief verankerte Prägungen, Ohnmachtss­ituationen und Rivalitäts­muster aufarbeite­n. Sonst nimmt man sie mit in den Berufsallt­ag und lenkt Abläufe in eine destruktiv­e Richtung.“

Werdenden Müttern rät Sedlak, sich auf die Geburt vorzuberei­ten und über Rechte, Wahlmöglic­hkeiten und Geburtspos­itionen zu informiere­n. Auch einen Fürspreche­r, wie den Partner, die Mutter oder eine eigene Hebamme, sollte man zur Geburt mitnehmen. Hat man Gewalt bei der Geburt erlebt, ist die Aufarbeitu­ng in Gruppen oder Einzelther­apie sehr wichtig – insbesonde­re für eine mögliche weitere Geburt.

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Kaiserschn­itte ohne medizinisc­hen Grund, vaginale Untersuchu­ngen ohne Zustimmung der Gebärenden, entblößtes Herumliege­n bei offener Tür: Die Bandbreite von Grenzübers­chreitunge­n bei der Geburt ist groß
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Buchtipp: „Gewalt unter der Geburt: Der alltäglich­e Skandal“, Christina Mundlos, Euro 16,95

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