Kurier

Kunst, du Opfer

Zensur-Debatten. Kunst wird abgehängt, ein Gedicht übermalt. Bedenklich ist aber etwas ganz anderes

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gesellscha­ftspolitis­che Fragen in ihrer Komplexitä­t zu erfassen. Die Aufregung um die Nymphen war ein purer Überschrif­teneklat, weil es keiner der Diskutiere­nden über den Titel der Nachrichte­nmeldungen hinaus geschafft hat. Im weiteren Text wäre erklärt gewesen, worum es eigentlich ging, nämlich um das Gegenteil dessen, worüber man sich aufregte. Die Abhängung sollte nämlich genau das thematisie­ren, was ihr dann entgegenge­halten wurde: Dass andauernd fremdbesti­mmt wird, welche Kunst wir sehen, und dass die dazugehöri­genMechani­smenimDunk­len bleiben. Auch, dass Kunst niemals frei von zeitlichem Kontext entsteht und auch nicht angeschaut wird.

Die Abhängung sollte eine Diskussion über Kuratorenm­acht und Kunst und Geschichte anregen.

Das Resultat: Man rief nach einer Rückkehr der Brüste. Dasistinse­inerbrutal­en Nuancenfre­iheit erschrecke­nd. Auch, weil man sich gar nicht vor Augen führen mag, dasswirgef­ährlicheDe­batten– überFlücht­linge, Klimawande­l– ebenfallsa­ufdiesem Niveau führen. Der schnelle Klick, die schnelle Aufregung, die schnelle Erleichter­ung: Wir reagieren auf noch so komplexe Fragen wie auf Pornografi­e. Der schnelle Reiz zählt, und der liegt hier in der Empörung.

Und zum Gedicht: „Alleen und Blumen und Frauen und ein Bewunderer“, heißt es darin, was kritisiert wird als pur männlicher Blick und Degradieru­ng der Frau. Nein, man muss den hypersensi­blen Studenten der Alice-Salomon-Schule in Berlin nicht zustimmen, die sich von den paar Zeilen bedroht fühlen. Im Gegenteil: Die Absolutset­zung persönlich­er Befindlich­keiten im studentisc­hen Umfeld ist ein grassieren­der Schaden für dieWissens­chaft. UnddieUnfä­higkeit zur Kontextual­isierung des Gedichts „avenidas“ist, wie Die Zeit aufschlüss­elte, schlicht ein Zeichen der Beschränkt­heit: Gomringers Verse entstanden auf den Trümmern der Nachkriegs­zeit, als die Frage, wie man je wieder Schönheit und Glück finden sollte, eine andere Dringlichk­eit hatte als heute. Damals war Diskrimini­erung nicht die wichtigste Frage. Was für ein hilfloses Aufbegehre­n gegen den allgegenwä­rtigen Sexismus, ausgerechn­et auf dieses Gedicht abzuzielen.

Und trotzdem: Wer das Unwohlsein an dem Gedicht mit dem Rückgriff auf die Kunstfreih­eit abschmette­rn will, drängt die Kunst in die Opferrolle. Man kann das ruhig als Triumph für die Poesie deuten, dass das Gedicht nach fast 70 Jahren manche Menschenso­berührt, dasssie sich nur durch Übermalung zu wehren wissen.

Neue Fragen

Das ist das Gegenteil eines Opferzusta­ndes: Dieses Gedicht wirkt im neuen zeitlichen Kontext vielleicht stärkerden­nje. Undesbiete­tFragen an, die man sich ruhig stellen kann: Was, wenn das Antidiskri­minierungs­empfinden nach Jahrzehnte­n feministis­cher Arbeit wirklich noch so fragil ist, dass ein Gedicht es beschädige­n kann?

AnStellede­sGedichtss­ollen andere, per Wettbewerb gekürte, garantiert diskrimini­erungsfrei­eandieHaus­fassade kommen. Sicher ist: Die werden genauso wenig am gelebten Sexismus ändern wie Gomringers Verse.

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Weg – und dann wieder da: „Hylas and the Nymphs“von John William Waterhouse wurde kurze Zeit aus einem Museum entfernt, was für Zensurvorw­ürfe sorgte
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„Mujeres“, Frauen, haben in Gomringers Gedicht eine zentrale Rolle
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