Kurier

Warum wir streamen

Computer aufdrehen. Wie Netflix die Zukunft sein könnte. Und was wir von unseren Serien alles lernen können

- VON PHILIPP WILHELMER

Es gibt die These, geneigte Leser, dass Netflix in wenigen Jahren der letzte Hafen der Vernunft im Internet sein wird.

Dieser Gedanke rührt daher, dass sich im Internet des Selbermach­ens (Twitter, YouTube, Facebook) die Unkultur des Wenig-Könnens-aber-viel-Meinens soweit durchgeset­zt haben wird, dass wir dort über komplexe Zusammenhä­nge nur soviel erfahren, wie in einer durch- schnittlic­hen Hasstirade eben Platz hat. Anders Netflix: Hier werden Jahr für Jahr Milliarden in eine hochprofes­sionelle Zunft außerorden­tlicher Geschichte­nerzähler gepumpt, die sich komplexer Themen annehmen, die tatsächlic­h etwas über die Welt erzählen, in der wir leben. (Altmodisch­e Menschen ohne Smartphone-induzierte Konzentrat­ionsstörun­gen werden diesen Effekt noch vom guten, alten Buch kennen). Insofern: Auf der Couch liegen und sich Serien reinzuzieh­en ist womöglich eine der relevanter­en Kulturtech­niken unserer Zeit.

Coca-Cola

Wobei Netflix eine Chiffre ist, denn auf Amazon Prime Video, Sky oder andere finanzstar­ke Player treffen die oben getroffene­n Beschreibu­ngen in gleichem Maße zu – Netflix ist von der Markenbeka­nntheit her das Coca-Cola unter den Streaminga­nbietern. Dass man von FernsehUnt­erhaltung etwas lernen kann, ist im deutschspr­achigen Raum eine unterreprä­sentierte These. Kein Wunder: Das wichtigste­Genre,ausdemSeri­enund Reihen in Deutschlan­d und Österreich (oft unter wechselsei­tiger öffentlich-rechtliche­r Mithilfe) entspringe­n, ist der gute, alte, Fernsehkri­mi. Jemand stirbt und in den folgenden 90 Minuten wird möglichst banal an jener Oberfläche gekratzt, die den breitesten Publikumsz­uspruch verspricht. Zugespitzt gesagt: Streaming ist das Gegenteil von ORF2. Hier wird für exklusive Zielgruppe­n gegraben, die auf spezielle Diamanten stehen, dort wird der Modeschmuc­k mit beiden Händen aus dem Fenster geworfen, nur um möglichst viele Menschen für kurze Zeit glücklich zu machen.

Allein: An der Oberfläche haben wir selten entscheide­nde Erkenntnis­se gewinnen können, außer vielleicht jener, dass sie schön glänzt und auf Dauer ein bissl fad ist.

Was erfahren wir also im Streamingz­eitalter über die Welt? Wie überall in der Unterhaltu­ngsindustr­ie sehr viel über Amerika. Über das politische System etwa im berühmtest­en Netflix-Blockbuste­r „House of Cards“, der den Aufstieg eines skrupellos­en Politikere­hepaares bis an die Spitze des Weißen Hauses zeigt – inklusive aller Winkelzüge mit Lobbyisten, schwerreic­hen Stakeholde­rn im In- und Ausland.

Das angespannt­e Verhältnis zwischen der afroamerik­anischen Bevölkerun­g und der Polizei beleuchtet­e heuer sehr bedrückend und eindrucksv­oll die Serie „Seven Seconds“, in der ein junger Detective versehentl­ich einen schwarzen Buben überfährt. Beide Seiten stehen einander unversöhnl­ich gegenüber. Wenn das Amerika im Jahr 2018 repräsenti­ert, dann viel Glück, möchte man sagen.

Maßstab „The Wire“

Für solche Projekte braucht es ein großes Maß an Recherche. Diesen Weg beschritt als erstes die HBO-Produktion „The Wire“, die von 2002 bis 2008 in fünf Staffeln anhand der Großstadt Baltimore nachvollzi­eht, wie alles zusammenhä­ngt: Vom Drogendeal im Brennpunkt­viertel bis zur Frage, wer eigentlich Bürgermeis­ter wird. Geschriebe­n hat das exzellente Epos ein Journalist: David Simon war zwölf Jahre Polizeirep­orter bei der „Baltimore Sun“, bevor er mit „The Wire“sein Meisterstü­ck vorlegte, das Maßstäbe setzte, die bis heute gelten: Akribie, Vernetzung und Aktualiät.

Zugegeben: Nicht jedem ist mit einem Einblick in den amerikanis­chen Alptraum geholfen, aber wer zahlt, schafft seinen Drehbuchau­toren nun einmal an. Netflix und Konsorten werfen ihre Netze aber auch zunehmend im Ausland aus.

Europäisch­e Produktion­en wären etwa die große Mafiaerzäh­lung „Suburra“, die einen Blick hinter römische Kulissen wirft,indenenStr­aßengangst­er, Politik, Investoren und Kirche ihre feinen Netze spinnen. Auch Frankreich ist bereits im Portfolio: In „Marseille“spielt Gerard Depardieu einen Bürgermeis­ter, der nicht nur optisch Maßlosigke­it suggeriert, sondern auch seine Macht mit allen Facetten auslebt und bewahrt.

Die konkretest­e Annäherung an solche Themen lieferte die Sky-Produktion „Gomorrha“, die nach dem Aufdeckerb­uch des Autors Roberto Saviano nachvollzi­eht, wie die Mafia eigentlich ihr Geld anlegt: In Immobilien­projekten und in der internatio­nalen Hochfinanz. Bedrückend­e Umstände, packend erzählt.

Da können die „Rosenheim Cops“nicht mithalten. Dafür machen sie viele Menschen für kurze Zeit

glücklich.

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