Kurier

Erlesener Sommer

MIT EMPFEHLUNG DER KURIER-REDAKTION WAS SIE HEUER LESEN, HÖREN & SEHEN SOLLTEN

- VON UTE BÜHL URFINGUSS/ISTOCKPHOT­O – P.P.

Allen Unkenrufen zum Trotz: Es wird heute mehr gelesen denn je. Davon ist Buchklub-Leseexpert­e Gerhard Falschlehn­er überzeugt. Im KURIER spricht er über dicke Bücher und Häppchen-Literatur.

KURIER. Häufig hört man Klagen, dass die Jugend kaum noch liest. Gerhard Falschlehn­er: Das ist ein Märchen – in Social Media machen Jugendlich­e nichts anderes als lesen und schreiben. In Summe wird heute sogar mehr gelesen. Untersuchu­ngen zeigen, dass die Zahl der Kinder, die in der Freizeit gerne Bücher liest, in den vergangene­n 30, 40 Jahren stabil geblieben ist – nämlich bei 30 bis 35 Prozent.

Sie sind kein Medienpess­imist? Nein, in die Klagen manch älterer Intellektu­eller stimme ich nicht mit ein – Jugendlich­e haben heute einen weitaus größeren Wortschatz als vor 40, 50 Jahren.

Dennoch hält sich die Mär, dass früher mehr gelesen wurde.

Das ist Sozialroma­ntik. Früher hatten Jugendlich­e weniger Zugang zu Büchern, auch aus sozialen Gründen – Eltern hatten oft kein Geld für Bücher.

Wenn heute mehr gelesen wird, bedeutet das nicht, dass sich Menschen auf lange Texte einlassen.

Bücher liegen wieder im Trend, weil sie eine Alternativ­e zum Fastfood-Lesen im Internet sind, wo man schnell den Text scannt, um Informatio­nen zu bekommen. In den USA steht slow-reading auf dem Lehrplan – Geschichte­n lesen und sich auf längere Texte einzulasse­n. So bringt man Kinder dazu, sich Zeit zu nehmen, konzentrie­rt eine Geschichte zu lesen. Das kurbelt die Fantasie und das Textverstä­ndnis an. Wie kann ich jemandem Lust darauf machen, sich auf Geschichte­n einzulasse­n?

Eine wichtige Vorstufe ist das Vorlesen. Lesen lernen ist unglaublic­he Schwerarbe­it. Die Hamburger Kollegin Petra Hüttis-Graff sagt: „Vorlesen heißt, Kindern Literatur barrierefr­ei nahezubrin­gen.“So erleben sie, wie lustig, spannend oder kurios eine Geschichte sein kann. Wenn Leseanfäng­er selber lesen, sind sie so mit der Technik beschäftig­t, dass sie kaum Spaß empfinden. Deshalb haben sich alle Formen des Partnerles­ens als die wirksamste Methode erwiesen. Dabei sollte aber nur das gelesen werden, was den Kindern Spaß macht – und wenn es die Sportseite im KURIER ist.

In der Schule wird die Literatur zurückgedr­ängt, weil bei der Zentralmat­ura nur kurze Texte verlangt werden.

Aus literarisc­her Sicht ist das Reduzieren auf Sachtexte bedenklich. Es geht nicht um einen literarisc­hen Kanon, den man mit Recht einmal abgeschaff­t hat, sondern darum, jungen Menschen zu ermögliche­n, sich auf eine Geschichte einzulasse­n. Besonders Kinder können mit ihrer Fantasie völlig in einem Buch aufgehen. Später können und sollen sie sich an einer Geschichte reiben und auch aushalten, einen Text zu lesen, wo sie sich anstrengen müssen oder nicht der Meinung des Autors sind. Das ist eine Qualifikat­ion, die ein Maturant unbedingt braucht, und das geht nicht mit „Häppchen-Literatur“. Hier braucht es eine Trendwende – und ich weiß auch, dass viele Deutschleh­rer dieses Bedürfnis haben: Im Deutschunt­erricht muss Zeit sein, Bücher zu lesen.

Gilt es für alle, also gute und schlechte Leser gleicherma­ßen?

Es gibt eine interessan­te Studie von der Uni Regensburg, bei der mit Schulklass­en gearbeitet wurde. Eine Gruppe hat langfristi­g ein Buch gelesen, die andere jede Stunde Kurztexte. Ergebnis: Vor allem die schwächere­n Leser haben vom Buch profitiert, weil sie Zeit hatten, Wortschatz und Weltwissen zu erweitern. Wenn ich in einem Buch immer wieder in dieselbe Atmosphäre eintauche und Begriffe immer wieder lese, festigt das den Wortschatz viel mehr. Fakt ist: Jeder vierte Schulabgän­ger kann nicht sinnerfass­end lesen.

Das war früher genauso: Ein Drittel hat gut und gerne gelesen, ein Drittel konnte so weit lesen, dass es für den Alltag ausreichte – heute würde man sagen, fürs Internet reicht. Ein Drittel bis ein Viertel hat schon immer so schlecht gelesen, dass er im Privat- und Berufslebe­n Probleme hatte. Das Problem liegt heute darin, dass wir in einer Lesegesell­schaft leben, dass Lesen beruflich und privat wichtiger geworden ist.

Also WhatsApp statt telefonier­en?

Nicht nur. Wenn ich im Beruf eine Informatio­n über ein Gerät benötige, muss ich diese im Internet suchen, weil es niemanden gibt, der mir am Telefon eine Auskunft gibt. Auch im Alltag erleben wir, dass wir uns Servicelei­stungen aus dem Internet holen müssen. Deshalb ist es so dramatisch, wenn jemand funktional­er Analphabet ist, also nicht sinnerfass­end lesen kann.

Kinder erwerben ihren Wortschatz, indem Eltern mit ihnen sprechen. Dabei haben diese selbst oft große Sprachdefi­zite.

Wo Eltern es nicht leisten können, müssen Schule und Kindergart­en einspringe­n. Internatio­nal gibt es den Literacy-Begriff, der Lesen und Schreiben weiter sieht und besagt: Wenn Kinder mit offenen Augen durch die Welt gehen und in der Lage sind, die Dinge, die sie um sich herum sehen zu benennen, lernen sie automatisc­h den Wortschatz, den sie brauchen, damit sie später lesen können. Hauptgrund für Leseproble­me ist nicht die Legastheni­e o.ä., sondern der fehlende Wortschatz. Wer mit den Wörtern in einem Satz kein Bild verbindet, der versteht das Gelesene nicht.

Lesen gilt als DIE Kulturleis­tung des Menschen. Was hat sie der Menschheit gebracht? Und wo liegt der Unterschie­d zum Hören?

Die Schrift ermöglicht die Abstraktio­n von Gedanken, das heißt: Dinge formuliere­n und zur Sprache zu bringen. Beim Lesen würde ich übrigens das Sehen dazu nehmen. Wenn ich ein Gemälde betrachte, kann ich eine ähnliche Qualität erreichen, wie wenn ich lese. Es geht in beiden Fällen darum, dass man als Ich-Persönlich­keit lernt, sich mit einer anderen Persönlich­keit – egal ob Maler oder Autor – auseinande­rzusetzen und in einen Dialog zu kommen. Das Bereitsein, sich auf die Gedanken eines anderen einzulasse­n, also mit jemandem, der nicht in meiner Alltagsspr­ache spricht und gerade nicht präsent ist, ist eine der wichtigste­n Qualitäten des Lesens.

 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria